Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

Varzin Vierundzwanzigstes Kapitel 495 
dem in Berlin viel angestrengt Gewesenen, dem von riesiger Arbeit 
endlich Abgespannten, dem von verdrießlichen Friktionen Gequälten 
Ruhe und heitre ländliche Stille dreifach zu gönnen gewesen. Man 
sollte meinen, daß ein verehrliches Publikum dies begriffen und 
danach gehandelt hätte. Aber weit gefehlt, es war, wie in andern 
Beziehungen, auch hier von schwachen Begriffen, und es kannte 
wenig Rücksichten. „Man traut seinen Augen kaum, wenn man 
gewahr wird, was sie ihm zumuten,“ so ungefähr sagte mir Bucher 
in einem der ersten Jahre nach 1870. „Ich bin manchmal förmlich 
erschrocken, wenn ich die Lasten von Zuschriften sah, mit denen die 
Welt mit ihrer wohlmeinenden Schreibseligkeit und ihrem naiv zu- 
dringlichen Egoismus ihm die paar Monate wohlverdienter Muße 
zu vereiteln trachtet, die der Sommer ihm endlich gewähren möchte." 
Vergebens waren die Notizen in der Norddeutschen Allgemeinen 
Zeitung, mit denen der Kanzler sich derartige unbillige Belästigungen 
dringend verbat, in den Wind geredet die Warnung, die ich, wie 
oben gemeldet, in der Kölnischen Zeitung ergehen ließ. Eine große 
Anzahl andrer Blätter gab die Bitte um Verschonung und die 
Drohung mit Nichtbeachtung ungebührlicher brieflicher Zumutungen 
wieder, man wußte also in weiten Kreisen, daß die Störung mit 
Verdruß empfunden wurde. Trotzdem nahmen die dem Kanzler in 
seine Zurückgezogenheit nachfolgenden Privatschreiben mit Vorschlägen 
zur Verbesserung der argen Welt nach den verschiedensten Richtungen, 
mit langen politischen Auseinandersetzungen, die zuweilen sehr 
wunderlicher Art waren, mit Gesuchen um Unterstützung durch Geld 
oder Fürsprache um Darlehen, um Anstellungen, um Gutachten 
u. dergl. kaum ab, und noch 1876 erwiderte mir Bucher auf eine 
Anfrage betreffs dieser Kalamität: „Alles nichts geholfen. Publikus 
bleibt, was er ist. Man denkt an den Schlafbedürftigen und die 
Fliegen des August, an Schmeie Tinkeles, an das Expellas furca 
u. s. w.“ Bei meiner Anwesenheit in Varzin schien allerdings der 
Briefstrom nur noch zu rieseln. Indes waren damals erst wenige 
Tage vergangen, seitdem der Kanzler von Gastein nach Varzin 
zurückgekehrt war, und möglicherweise wußte die Zudringlichkeit, die 
ihn früher hier geplagt hatte, noch nicht, wohin sie ihre Anliegen 
zu adressieren hatte. 
Eine Kirche ist im Dorfe nicht vorhanden. Wer die Predigt
	        
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