496 Vierundzwanzigstes Kapitel Varzin
hören will, muß nach dem etwa drei Viertelstunden Wegs entfernten
Wussow gehen. Der Fürst nimmt, obwohl er, wie ich anderswo
angedeutet habe, ein gottesfürchtiger Mann ist, der seine Kraft in
der Religion sucht, seine Pflichten auf sie begründet und den Tod
als janua vitae betrachtet, am öffentlichen Gottesdienste wenig
teil — vielleicht aus Gesundheitsrücksichten.
Das Leben des Kanzlers in seiner Varziner Zurückgezogenheit
ist sehr einfach. Es ist im wesentlichen Erholung von Überbürdung
mit Geschäften, von Reichstagsreden und den bekannten traurigen
Friktionen in guter Luft, Waldes= und Wiesengrün und ländlicher
Abgeschiedenheit, dann rege Beschäftigung mit der von ihm, wie
bemerkt, warm geliebten Landwirtschaft, endlich Genuß der Natur,
zu der ihn gleichfalls zu allen Zeiten innige Neigung hingezogen
hat. Wie man weiß, hat er seit Jahren an Schlaflosigkeit gelitten.
Durch die Gasteiner Kur im Sommer 1877 hatte es sich wie mit
anderm so auch damit wesentlich gebessert. Infolge dessen stand der
Kanzler früher als sonst auf, um schon bald nach neun Uhr einen
Spaziergang zu machen, wobei ihn ein gelinder Regen und Wind
nicht anzufechten schien. Dann begleitete ihn der erwähnte schwere
Knotenstock und seine Ulmer Doggen Sultel und Flörchen, von
denen ihm jener vom Oberstallmeister des Königs von Bayern,
Grafen Holnstein, zum Geschenk gemacht worden war. Nicht lange
nach meiner Anwesenheit in Varzin las man in den Zeitungen,
daß ein schlechter Kerl, der unentdeckt geblieben ist, ihm den Hund,
dem der Fürst sehr zugethan war, zu Schanden geschlagen hatte,
sodaß er bald darauf verendet war. Indes ist er ihm seitdem durch
einen ganz ähnlichen, nur weniger gutmütigen oder, wenn man
will, argwöhnischern ersetzt worden, der manchem von unsern Reichs-
tagsabgeordneten als eine Art Mitgast bei den parlamentarischen
Sonnabendsrouts im Palais auf der Wilhelmstraße — ich schreibe
hier nach Hörensagen — begegnet sein wird.
Die Tagesordnung im Varziner Herrenhause ist etwa folgende.
Zwischen zehn und elf Uhr vormittags setzt sich der Fürst mit seiner
Familie und den etwaigen Gästen zu einem Frühstück nach englischer
Art, bei dem ich ihn selbst aber nur Milch und dann eine oder
zwei Tassen schwarzen Kaffee trinken, sowie etwas geröstetes Weiß-
brot nebst zwei weichgekochten Eiern essen sah. Bei dieser Gelegen-