8 49 Die geschichtliche Entwicklung der Gemeindeverfassung. 113
Viertes Kapitel.
Die Selbstverwaltungskörper.
A. Die Ortsgemeinden.
§ 49. Die geschichtliche Entwicklung der Gemeindeverfassung. I. Die recht-
liche Stellung der Gemeinden entbehrte in Hessen bis in das 19. Jahrhundert hinein einer
einheitlichen Ordnung 1). Ein großer Teil gemeinderechtlicher Fragen war von Staats wegen
überhaupt nicht geregelt und fand seine Beantwortung — falls eine solche nicht gänzlich fehlte —
in alten Lokalstatuten, die im Laufe der Zeit allerdings mehr und mehr dem Willen des
Staates angepaßt wurden. Immerhin zeigten, während in der Provinz Rheinhessen im
wesentlichen französisches Recht galt, die Provinzen Starkenburg und Oberhessen wenigstens
in den Grundzügen eine gewisse Gleichartigkeit des Rechts. Die Gemeinden waren
vom Staate als privatrechtliche Korporationen mit einem bestimmten, vom Staate
abgegrenzten Wirkungskreis anerkannt, konnten Vermögen erwerben, besitzen und ver-
walten, waren jedoch in ihrer Vermögensverwaltung durch eine streng durchgeführte Kuratel
der Regierung beschränkt. Diejenigen lokalen Angelegenheiten, für welche ausdrückliche
aussichtsrechtliche Bestimmungen fehlten, wurden überhaupt nicht von den eigenen Organen
der Gemeinden, sondern von den Beamten des Landesherrn erledigt. Die Vermutung
der Zuständigkeit sprach hinsichtlich aller „Hoheitsgerechtsame“ zugunsten des Landesherrn
und gegen diejenige der Gemeindeorgane. So stand den hessischen Gemeinden im wesent-
lichen nur die Verwaltung des Gemeindevermögens unter Kuratel des Staates zu.
Im übrigen standen sie, soweit ihnen der Staat überhaupt eine eigene Tätigkeit ge-
stattete, unter der Oberaufsicht des Staates, die von diesem durchaus nach seiner eigenen
Willkür gehandhabt werden konnte, und die daher vielfach auch zu unmittelbaren Eingriffen
in die Gemeindeverwaltung führte 2). Am stärksten kam der Einfluß des Staates auf die
Gemeinden in seiner Stellung gegenüber den Gemeindeorganen zum Ausdruck. Diese wurden
teils unmittelbar vom Staate ernannt, teils auf Grund vorhergehender Wahl vom Landes-
herrn bestätigt, standen unter der Disziplinargewalt des Staates und konnten von diesem
aus ihrem Dienste entlassen werden. Als „erste Ortsvorstandsperson“ fungierte in der Regel
ein vom Ministerium widerruflich ernannter „Schultheiß“, der in jeder Richtung als
abhängiger Staatsbeamter, und zwar als Subalternbeamter des Amtsmannes, erscheint. Mit
dem Schultheißen zusammen bildeten einige Gemeindebürger (sog. Gemeinderäte, Stadt-
räte, Vorsteher, Deputierte, Schöffen usw.) die mit der Verwaltung der Gemeindeaufgaben
betraute Gemeindevertretung, deren Mitglieder wohl in den meisten Gemeinden
vom Staate bzw. von den Standesherren ernannt oder doch bestätigt waren 3). Wesen und
Stellung der Gemeindevertretung beruhte in der Hauptsache auf lokaler Regelung.
Ein weiteres wichtiges Gemeindeorgan war — wenigstens in den größeren Gemeinden —
der hauptsächlich mit der Führung des Gemeinderechnungswesens betraute Bürger-
meister; in den kleinsten Gemeinden konnte seine Stellung mit der des Schultheißen ver-
einigt sein. In den Stadtgemeinden war er als das tatsächliche Oberhaupt der Gemeinde
anzusehen, während der Stadtschultheiß sich mehr auf die Handhabung der staatlichen Ober-
aufsicht beschränkte. Die Bestellung des Bürgermeisters geschah in den Dorfgemeinden durch
Wahl ohne staatliche Bestätigung; in den Städten fand entweder Wahl oder ein regelmäßiger
Turnus unter den Ratsmitgliedern statt, wobei in beiden Fällen staatliche Bestätigung er-
forderlich war 4).
II. Die Mißstände, die sich aus dem oben geschilderten Mangel einer einheitlichen
Gemeindegesetzgebung und aus dem Ubermaße der Bevormundung der Gemeinden ergaben,
1) Siehe hierüber namentlich die oben (5 35) zitierten, mit eingehenden Quellenangaben
versehenen Abhandlungen von Ahl und Wennesheimer.
2) Siehe Ahl S. 11 ff., 16 ff. u. bes. S. 37.
3) Siehe Ahl S. 20, 23; Wennesheimer S. 18 ff.
4) Ahl S. 21f.
van Calker, Hessen. 8