Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

8 49 Die geschichtliche Entwicklung der Gemeindeverfassung 115 
  
in bezug auf die Benutzung oder den Ertrag der Gemeindegüter, und in Beisassen. Beide 
Kategorien sollten nach Vorschrift der Gemeindeordnung allmählich in der einheitlichen Kategorie 
der Ortsbürger ausfgehen 1). — 
Alles in allem bedeutete die Gemeindeordnung von 1821 gegenüber dem früheren Rechts- 
zustande zweifellos einen Fortschritt. Namentlich schuf sie Rechtseinheit für das ganze Staats- 
gebiet, beseitigte die bisher gegenüber den Gemeinden als „Minderjährigen“ bestehende Kuratel 
und glich manche Unterschiede innerhalb der Gemeindeeinwohner aus. Indessen brachte sie 
auch manche von den Gemeinden als lästig empfundene Neuerungen und ließ noch viele 
Wünsche unerfüllt 2). 
III. Bei den Verhandlungen über die Gemeindeordnung von 1821 war mehrfach, auch 
von seiten der Regierung, betont worden, daß die damals vorgenommene Regelung des 
Gemeinderechts der Ausgangspunkt einer weiteren Entwicklung sein solle. Regierung und 
Volksvertretung waren darüber einig, in der Gemeindegesetzgebung stufenweise fortschreiten 
und den Gemeinden nach Ablauf weniger Jayre in allen Beziehungen eine größere Bewegungs- 
freiheit gestatten zu können 2). Es fehlte denn auch nicht an den mannigfachsten Verbesserungs- 
vorschlägen, die — teils von der Regierung, teils von den Landständen ausgehend — schon 
wenige Jahre nach dem Inkrafttreten der Gemeindeordnung deren Abänderung oder gar deren 
Verdrängung durch eine ganz neue organische Gemeindeverfassung verlangten; allein die 
Wünsche nach einer freiheitlichen Fortentwicklung des Gemeinderechts sollten mehr als fünfzig 
Jahre unerfüllt bleiben. Ein von der Regierung im Jahre 1829 vorgelegter „Gesetzentwurf 
von Abänderungen und Zusätzen zur Gemeindeordnung“ scheiterte an dem Widerstand der 
Ersten Kammer:; das gleiche Schicksal teilten die aus der Mitte der Zweiten Kammer hervor- 
gegangenen Reformvorschläge vom Jahre 1830 4). Das nächste Jahrzehnt brachte die oben 
(5 35) geschilderte einschneidende Umgestaltung der staatlichen Verwaltungsorganisation von 
1832 und 1835, durch welche auch die Stellung der Gemeinden zum Staate wesentlich beein- 
flußt und zuungunsten der gemeindlichen Freiheit verändert wurde. Die Bewegung von 1848 
führte zu der gleichfalls schon erörterten Heranziehung des Volkes zur Verwaltung (s. 88 36, 49, 
53 ff.)5) sowie zu weiteren eingreifenden Anderungen in der staatlichen Behördenorganisation und 
gab auch der Hoffnung auf den Erlaß einer neuen liberalen Gemeindeordnung Nahrung. Allein 
die Gesetzgebung der fünfziger Jahre verkehrte diese Hoffnungen in ihr Gegenteil. Das Gesetz 
vom 8. Januar 1852, die Bildung des Ortsvorstandes und die Wahl des Gemeinderates betreffend, 
verminderte die Zahl der Gemeinderatsmitglieder und verstärkte zugleichin mebrfachen Richtungen 
den Einfluß der Begüterten auf die Zusammensetzung der Gemeindevertretung. Letzteres 
geschah namentlich durch die Einführung des Zensus und des Dreiklassenwahl- 
systems nach preußischem Vorbild 6). Die gleichen Tendenzen verfolgte das Gesetz, die 
Bildung der Ortsvorstände betreffend, vom 3. Mai 1858 (Rl. S. 189), welches den von der 
Regierung schon im Jahre 1852 vertretenen Gedanken verwirklichte, demhöchstbesteuerten 
Grundbesitzer der Gemeinde kraft Gesetzes die Mitgliedschaft im Gemeinderat zu ge- 
währen7). In engem Zusammenhange mit diesem Gesetze steht das eine Reihe von weiteren 
Anderungen der Gemeindeordnung bringende Gesetz, die Gemeindeausgaben zweiter und dritter 
Klasse betreffend, vom gleichen Tage (RBl. S. 191). 
1) Bezüglich der näheren Verhältnisse dieser verschiedenen Kategorien und der Gründe 
des Scheiterns jener Vorschrift s. Waldecker, Gießener Diss., Friedberg 1911. 
2) Siehe die eingehende Kritik bei Ahl S. 86 ff. 
3) Siehe Ahl, S. 89; Wennesheimer S. 33. 
4) Vgl. hierzu und zum Folgenden besonders Wennesheimer S. 33 ff.; Ahl S. 104 ff. 
5) Vgl. auch Ahl S. 102f. 
6) Wennesheimer S. 51—69. 
7) Wennesheimer S. 69—77. — Vgl. auch a. a. O. S. 79 und bei Ahl S. 107 f. 
die Ausführungen über die vom Landtag heftig angegriffene landesherrl. Verordnung, die 
Amtspflichten der Mitglieder des Gemeinderates betr., vom 31. Januar 1850 (RBl. S. 83). — 
Das letztgenannte Gesetz ist durch St O. Art. 238 Z. 2, LGO. Art. 216 Abs. II für die Land- 
gemeinden ausdrücklich aufrechterhalten, dabei jedoch hinsichtlich einiger Artikel abgeändert worden; 
für die Stadtgemeinden wurde es außer Kraft gesetzt. 
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