116 Die Organisation des Staates. Die Selbstverwaltungskörper. 8 50
IV. Mit den Gesetzen von 1852 und 1858 hat der Einfluß der Reaktionsperiode auf
das hessische Gemeinderecht seinen Höhepunkt und zugleich sein Ende erreicht. Die den Land-
ständen nach mehrfachem Drängen 1) zu Anfang des Jahres 1873 vorgelegten Gesetzesentwürfe
einer Kreis= und Provinzialordnung, einer Städteordnung und einer Landgemeindeordnung
atmeten einen anderen Geist. Vom Vertrauen zum Volke getragen, gewähren sie den Gemeinden
in erheblich weitergehendem Maße als bisher das Recht der Selbstverwaltung, verwirklichen
das bisher nur unvollkommen erfüllte Versprechen eigener, selbständiger Verwaltung des
Gemeindevermögens und mildern und begrenzen das staatliche Aufsichtsrecht über die Ge-
meinden. Sie wurden im wesentlichen zum Gesetz erhoben und bildeten unbeschadet der
Anderungen, welche sie durch die Gesetze vom 15. Mai 1885 (RBl. S. 95), vom 26. Mai 1894
(Rl. S. 231), vom 1. Juni 1895 (RBl. S. 85), vom 30. August 1899 (l. S. 593) und
vom 27. Juni 1908 (Rl. S. 129) erfuhren, mehr als ein Vierteljahrhundert die Grundlage
des hessischen Gemeinderechts. Auch die neue Gemeindegesetzgebung vom 8. Juli 1911 bleibt
in ihren Grundzügen — in vielen Artikeln sogar wörtlich — dem bewährten Vorbilde treu,
so daß eine besondere Darstellung der 1874er Gesetzgebung hier nicht geboten ist 2).
§ 50. Begriff und Abgrenzung der Ortsgemeinden. I. Gemeinden sind vom
Staate mit öffentlich-rechtlicher Gewalt ausgestattete, auf territorialer Grundlage ruhende
Personenvereinigungen des öffentlichen Rechts zur Erfüllung bestimmter öffentlicher Auf-
gaben innerhalb des Gemeindebezirks und innerhalb des gemeindlichen Interessenkreises.
Im weiteren Sinne des Wortes werden sowohl die cinfachen Gemeinden — das sind die
Gemeinden in dem ältesten, ursprünglichen Sinne des Wortes — als auch die vom Staate
später künstlich geschaffenen „zusammengesetzten Gemeinden“ oder „Kommunalverbände“
— das sind Vereinigungen mehrerer Gemeinden zu einer neuen öffentlichrechtlichen Kor-
poration — als „Gemeinden“ bezeichnet. Im engeren Sinne dient der Ausdruck „Gemeinde“
dagegen nur zur Bezeichnung der einfachen Gemeinden oder der sog. „Ortsgemeinden“ .
Die Ortsgemeinden bilden also die untersten Gebietskörperschaften des Staates; sie zerfallen
seit der Gesetzgebung von 1874 (Gesetz, die Städteordnung betr., vom 13. Juni 1874 (Il.
S. 2991 und Gesetz, die Landgemeindeordnung betr., vom 15. Juni 1874 I[RBl. S. 343))
und ebenso nach den beiden gleichnamigen Gesetzen vom 8. Juli 1911 in Stadtgemeinden
und Landgemeinden. Das unterscheidende Merkmal für diese beiden verschiedenen
Arten von Gemeinden ist die Art und Weise ihrer Verfassung. Diese richtet sich grundsätzlich
nach der Einwohnerzahl: Orte mit mindestens 15 0004) Einwohnern (einschließlich der aktiven
Militärpersonen) sind immer Stadtgemeinden; Orte mit unter 3000 Einwohnern sind immer
Landgemeinden; die in der Mitte zwischen diesen beiden liegenden Gemeinden mit 3000 bis
15 000 Einwohnern haben regelmäßig die Verfassung der Landgemeinden, können aber auf
Antrag der Gemeindevertretung und nach Anhörung des Kreistags mit Genehmigung der
Staatsregierung der Städteordnung unterstellt werden und erhalten damit den Charakter von
Stadtgemeinden (St O. 3). Neben den in § 5 genannten Stadtgemeinden gibt es noch über
50 Gemeinden, welche zwar nach Herkommen die Benennung „Stadt"“ führen, ihrer Ver-
fassung nach aber zu den Landgemeinden zu zählen sind. Der Antrag auf Wiedereinführung
der Landgemeindeordnung in einer auf ihren eigenen Antrag der Städteordnung unter-
stellten Gemeinde und ebenso der Antrag auf Einführung der Landgemeindeordnung in einer
bisher auf Grund ihrer Bevölkerungsziffer zu den Stadtgemeinden gehörenden Gemeinde
ist nur unter bestimmten Voraussetzungen (St O. Art. 5 und 6) zulässig. Dagegen tritt eine
1) Siehe namentlich Ahl S. 119, 120.
2) Bezüglich der Gemeindegesetzgebung auf steuerlichem Gebiet s. u. I## 83, 84. Die letzte
Darstellung der hessischen Gemeindeorganisation vor Abschluß der Reform von 1911 gibt Glässing
i. Wörterbuch d. Staats= u. Verwaltungsrechts B. II S. 93—97.
3) Bezüglich der einschlägigen Begriffe s. Heinrich o sin, Das Recht der öffentlichen
Genossenschaft, Freiburg i. B. 1836. S. 40 ff. und die dort angeführte Literatur. S. auch St .
u. LGO. Art. 1: „Jede „Stadt-= (bzw. Land-Ogemeinde bildet einen Verband zur Selbst-
verwaltung ihrer Angelegenheiten mit den Rechten einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.“
4) Bisher 10 000 (StO. a. F. Art. 1).