Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

8 55 Der Wirkungskreis d. Gemeinden u. d. Zuständigkeit ihrer Verfassungsorgane. 135 
  
Wahrung ihrer individuellen Interessen einen solchen Gemeindevertretungsbeschluß inner- 
halb einer Notfrist von vier Wochen vom Tage jener Beschlußfassung oder von dem gesetzlich 
anderweitig bestimmten Zeitpunkte ab, mit Klage im Verwaltungsstreitverfahren anzufechtent). 
1) Die hier gegebene Abgrenzung des Kreises der Anfechtungsberechtigten stützt sich nicht 
unmittelbar auf das Gesetz. Sowohl die St O. als auch die LGO. lassen im Gegensatz zu dem 
Regierungsentwurf (s. L V. II 1908/11, Drucks. 189, Art. 101 Abs. II, S. 33 u. S. 112) in dem 
einschlägigen Artikel 98 die Frage, wer anfechtungsberechtigt sei, unbeantwortet, in dem sie ohne 
Zusatz schlechthin bestimmen: „Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung (bzw. des Gemeinde- 
rats) können innerhalb einer Notfrist von vier Wochen mit Klage im Verwaltungsstreitverfahren 
angefochten werden.“ Die Streichung des von der Regierung vorgeschlagenen Zusatzes „Zur 
Erhebung der Klage ist nur der berechtigt, dessen Privatinteresse durch den Beschluß verletzt ist“ 
(Art. 101 Abs. II des Entwurfs) wurde durch folgende, in dem Ausschußbericht der II. Kammer 
(Dr. Glässing; s. LBV. II 1908/11, Drucks. 464 S. 46 f.) zum Ausdrucke gebrachten Erwägungen 
veranlaßt: „Es ist anerkannt, daß die Selbstverwaltung, abgesehen 
von den Vorschriftenüber die Staatsaufsicht, dieihrüberwiesenen 
Angelegenheiten endgültig entscheidet. Die Organe der Selbst- 
verwaltung sind zur Wahrung des öffentlichen Interesses befugt 
und verpflichtet. Mit dieser Auffassung ist es unvereinbar, daß eine allgemeine An- 
fechtung der Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung erfolgen könne und eine actio popu- 
laris bestehe. In bestimmten Fällen der Kollision des allgemeinen und des Privatinteresses hat 
die Rechtsprechung ein Anfechtungsrecht zugelassen. Hierbei wird jedoch vorausgesetzt, daß das 
Beschwerderecht durch ein eigenes Interesse des Beschwerdeführers, welcher Anspruch auf Rechts- 
schutz hat, bedingt ist. In der Rechtsprechung wurde u. a. die Ansicht vertreten, das Beschwerde- 
recht sei auf diejenigen Fälle beschränkt, in welchen dasselbe den Beteiligten im Gesetz ausdrücklich 
zugestanden ist. Das Handbuch des Verfassungs- und Verwaltungsrechts von Küchler ver- 
tritt in Band II Seite 146 die Ansicht, daß das Beschwerderecht des einzelnen seine Begrenzung 
durch das öffentliche Interesse erfahre. Wo der Beschluß gleichzeitig das letztere berühre, werde 
dem einzelnen trotz seines eigenen persönlichen Interesses die selbständige Befugnis der An- 
fechtung versagt. Der Ausschuß hielt es nicht für richtig, bei dieser einschränkenden Tendenz der 
Rechtsprechung nur einen Teil der Rechtsprechung in dem Gesetze anzuführen. Die Mitglieder 
des Ausschusses billigten vollkommen die Tendenz der Rechtsprechung und stellten fest, daß 
der neue Entwurf dieselbe einschränkende Tendenz verfolgt. Mit 
Rücksicht darauf, daß es nicht möglich erscheint, die Rechtsprechung in diesem Gesetz zu kodi- 
5r5 wurde die Feststellung der Existenz eines Beschwerderechts der Rechtsprechung über- 
assen." 
Den vorstehenden Erörterungen wird der gewünschte Einfluß auf die Rechtsprechung nicht 
fehlen. Man wird ihnen auch — obwohl die in Reich und Einzelstaat vom Gesegeber immer 
häufiger angewandte Methode, unbequeme Definitionen dem Richter zu überlassen, an sich 
zu schweren Bedenken Anlaß gibt — in der Hauptsache durchaus beipflichten können. Nur insoweit 
muß m. E. der oben angeführten, in dem Ausschußbericht der II. Kammer vorgeschlagenen Inter- 
pretation und der ihr zugrunde liegenden Auffassung Küchlers — s. Küchler (Braun und 
Weber) II, 145 f. — entgegengetreten werden, als sie die Möglichkeit der verwaltungsgericht- 
lichen Klage schlechthin für alle diejenigen Fälle versagen will, in welchem neben dem privaten Inter- 
esse gleichzeitig auch noch ein öffentliches Interesse gegeben ist. Es ist zwar richtig, daß der 
Private nicht dazu legitimiert ist, das öffentliche Interesse geltend zu machen und darauf seine 
Klage zu stützen. Indessen schießt es über das Ziel hinaus, wenn man, um die Wahrung des 
öffentlichen Interesses den hierzu berufenen Faktoren vorzubehalten, dem Vertreter rein pri- 
vater Interessen um deswillen die Klage versagen will, weil der ihn beschwerende Gemeinde- 
vertretungsbeschluß zugleich auch öffentliche Interessen berührt. Bei einer Kollision zwischen 
privaten und öffentlichen Interessen werden — solange es sich wirklich nur um Interessen 
und nicht um Rechte handelt — zweifellos immer die öffentlichen Interessen in dem Ver- 
waltungsstreitverfahren den Sieg davontragen; wenn aber der Private und die Offentlichkeit 
im gleichen Sinne an der Abänderung oder Aufhebung eines Gemeindevertretungsbeschlusses 
interessiert sind, besteht doch sicher kein Grund, den Privaten aus einem rein formalistischen 
Gesichtspunkte abzuweisen. Das Bedenken, daß andernfalls dem Privaten die Wahrung öffent- 
licher Interessen anvertraut werde, kann nicht als richtig anerkannt werden. Denn nicht er 
ist es ja, der das öffentliche Interesse als solches zur Geltung bringt, sondern schlimmsten Falles 
ist es das Verwaltungsgericht, welches in seiner Entscheidung das öffentliche Interesse wahrt. — 
Demnach dürfte es den in dem vorgenannten Ausschußbericht vorgetragenen allgemeinen Ten- 
denzen des Gesetzes nicht widersprechen, wenn — wie oben im Texte geschehen — die ver- 
waltungsgerichtliche Klage schlechthin je der Privatperson gewährt wird, welche zur Wahrung 
ihrer individuellen Interessen einen in ihre Rechtssphäre unmittelbar ein- 
greifenden Gemeindevertretungsbeschluß anfechten will. 
 
	        
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