g 63 Der Begriff des Gesetzes nach hessischem Recht. 151
6) Durch eine Reihe von Ubergangsbestimmungen werden die oben er-
örterten Grundsätze über Beitrittspflicht und Beitrittsrecht und über die Bemessung der
Fürsorgeansprüche in mehrfachen Richtungen modifiziert 1).
Dritter Abschnitt.
Die Gesetzgebung.
§ 63. Der Begriff des Gesetzes nach hessischem Recht. In der Zeit vor dem Er-
lasse der Verfassung wurde der Ausdruck „Gesetz“ in der hessischen Amtssprache ziemlich wahl-
und prinziplos angewandt. Er diente zur Bezeichnung sowohl von allgemeinverbindlichen
Vorschriften für die Untertanen, als auch von Anordnungen, welche lediglich die besondere
Geborsamspflicht der staatlichen Behörden und Beamten in Anspruch nahmen. Wenn man
dem Ausdruck „Gesetz“ im Vergleiche mit anderen staatlichen Vorschriften überhaupt eine
bestimmte differenzierte Bedeutung beilegte, so lag diese in dem formalen Moment, daß man
bei „Gesetz“ an ausdrücklich gewollte, förmlich aufgestellte, geschriebene und wohl auch offiziell
publizierte Vorschriften :) dachte, während man im Gegensatze hierzu die auf bloßer Rechts-
gewohnheit beruhenden Grundsätze der staatlichen Ordnung als „Herkommen“, „Ob-
serwanz“ oder auch schlechthin als „Recht“ bezeichnete 3).
Erst der Übergang zum konstitutionellen System mit seiner scharfen Abgrenzung der
einzelnen staatlichen Funktionen und mit seiner unabweisbaren Forderung nach einer den
auswärtigen Vorbildern entsprechenden Kompetenzverteilung zwang zur Beobachtung eines
präziseren Sprachgebrauchs. Dabei machte man allerdings nicht viel Überlegens und mühte
sich nicht mit theoretischen Unterscheidungen und Feststellungen ab. Man begnügte sich damit,
den Ausdruck „Gesetz“ fortan regelmäßig in dem Sinn zu gebrauchen, in dem man ihn in den
als Muster dienenden süddeutschen Verfassungen angewandt fand, das heißt, in dem mate-
riellen Sinne des Wortes: „Gesetz = jede in der Aufstellung eines Rechtssatzes bestehende
staatliche Willenserklärung, gleichgültig, in welche Form dieselbe gekleidet ist“. Gleichzeitig
aber schuf man, indem man — jenen Vorbildern folgend — den Erlaß von Gesetzen in die
Beobachtung bestimmter formeller Voraussetzungen knüpfte, auch einen Begriff des Gesetzes
im formellen Sinne: „Gesetz = jede in der Form des Zusammenwirkens von Landes-
herrn und Volksvertretung zustande gekommene staatliche Willenserklärung, gleichgültig,
welchen Inhalt dieselbe hat“. Dabei machte man allerdings den Fehler, neben der durch das
konstitutionelle System bedungenen Unterscheidung von Gesetzen im materiellen Sinn und
von solchen im formellen Sinn auch noch den aus dem bisherigen Sprachgebrauch herrührenden,
auf einem anderen Einteilungsgrund beruhenden Unterschied von „Gesetz“ und „Recht“: „Ge-
setz" — „gesetztes Recht“; „Recht“ = „Gewohnheitsrecht“"), beizubehalten (s. HV. Art. 234)
und 33). Letzterer Umstand kann indessen wohl kaum zu einem Zweifel darüber Anlaß geben,
in welchem Sinne der Ausdruck „Gesetz“ in dem entscheidenden Artikel der hessischen Verfassungs-
urkunde (HV. Art. 72) gebraucht ist.
Art. 72 HV. bestimmt in seinem ersten Absatze: „Ohne Zustimmung der Stände kann
1) Siehe Art.
56—66.
scha Hierunter fallen selbstverständlich sowohl Rechtsregeln als auch bloße Verwaltungs-
vorschriften.
3) Bgl. hierüber und zum folgenden die eingehenden, sorgfältig begründeten Ausführun gen
bei Aull, Das landesherrliche Verordnungsrecht im Großh. Hessen, unter Ausschluß
Notarverordnungsrechts, Gießener Diss., Leipzig 1909; s. hier besonders S. 34—37
4) Bezüglich der Entstehungsgeschichte des Art. 23 HV. und der Bedeutung der Gegen-
überstellung „Recht“ und „Gesetz“ s. van Calker, VerfG. S. 106 u. 82. Vgl. auch die
die Richtigkeit der gegebenen Unterscheidung bestätigenden Ausführungen von Stier-Somlo,
Rechtsstaat, Verwaltung und Eigentum (Sonderabdruck a. d. Verwaltungsarchiv B. 18 u. 19),
Berlin 1911, bes. S. 70—78. S. andererseits aber auch die Bemerkung des Abgeordneten
Freiherrn v. [Ga gern LV. II 1820, B. 2 Beil. 86, S. 56, wonach Recht und Gesetz „mit von
uns“ (d. h. von den Landständ e n) ausgeht.