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etwa in Betracht kommenden Art. 10, 23, 27, 33, 35, 44, 45, 67, 72, 74, 77, 78, 103, 104
und 110 der Verfassung liefert aber den überzeugenden Nachweis, daß von einer Befolgung
der sogenannten Enumerationsmethode in Hessen keine Rede sein kann.
Somit bleibt nichts anderes übrig, als wieder zu dem schon zu Anfang vertretenen Stand-
punkte zurückzukehren, daß die hessische Verfassungsurkunde in ihrem Art. 72 den Ausdruck
„Gesetz“, ebenso wie es ihre Vorbilder taten, im materiellen Sinne angewandt habe. Ist aber
der Ausdruck Gesetz demnach in materiellem Sinne zu verstehen, so kann dieser Begriff in die
hessische Verfassungsurkunde selbstverständlich nur in der Bedeutung ausgenommen sein, die
ihm nach den damals bereits erlassenen Verfassungsurkunden der süddeutschen Staaten zu-
kam. Man hatte in Hessen in jener bewegten Zeit sowohl bei der Regierung wie bei den
Ständen so sehr das Bestreben, die wirklichen oder eingebildeten Gefahren der Verfassungs-
gewährung durch möglichst enge Anlehnung an die schon einigermaßen bewährten Vorbilder
abzuschwächen, daß man bei der Regelung aller Grundfragen rein eklektisch verfuhr und auf
die Aufstellung selbstän diger Grundsätze und Systeme durchaus verzichtete. Auf diese
Weise — also nicht gewollt, sondern unbewußt — hat also auch in Hessen der
Gesetzesbegriff Eingang gefunden, der die Verfassungsurkunden der damaligen Zeit be-
herrschte: Gesetz im materiellen Sinne ist jede staatliche Vorschrift, welche sich auf die
Freiheit oder das Eigentum der Personen bezieht.
Diese Definition des Gesetzesbegriffes deckt sich aber m. E. inhaltlich mit der oben ge-
gebenen Begriffsbestimmung, die vorerst wohl noch als die herrschende bezeichnet werden
muß, und die in der knappen Formulierung Labands lautet: „Gesetz im materiellen Sinn
ist die rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes“ 1). Die Identität dieser beiden Defi-
nitionen ist allerdings nicht unbestritten, allein die von Gierke, Thoma, Franz Rosin:)
u. a. dagegen vorgebrachten Einwendungen haben wenigstens bisher die für das konstitutionelle
Recht beinahe allgemein angenommene Ansicht nicht zu erschüttern vermocht, daß das Wesen
des Rechtssatzes eben darin bestehe, die Freiheitssphäre der Menschen durch Aufstellung fester
Regeln über Freiheit und Eigentum festzustellen und zu begrenzen. Jedenfalls steht außer
Zweifel, daß dem materiellen Gesetzesbegriff in der heutigen Staatspraxis überall die hier
behauptete Bedeutung beigemessen wird. Wo die Notwendigkeit besteht, eine authentische Fest-
stellung des Gesetzesbegriffs zu geben, lautet dieselbe stets: „Gesetz — ist jede Rechtsnorm“ 5).
#s64. Der Weg der staatlichen Gesetzgebung. I. Einleitung. Als der
eigentliche Gesetzgeber des Landes erscheint, vorbehaltlich der den Organen des
Deutschen Reiches zustehenden Kompetenzen, der Landesherr, der gemäß Art. 4 H.
alle Rechte der Staatsgewalt und demzufolge auch das der Gesetzgebung, in seiner Hand
vereinigt und unter den in der Verfassungsurkunde aufgestellten Bedingungen ausübt. Der
Landesherr ist jedoch auf Grund des im vorigen Paragraphen erörterten Art. 72 HV. in bezug
1) Siehe Laband, Kl. StR., S. 108; vgl. auch die von L. gegebenen umfangreichen
Literaturangaben. — Bezüglich der Vorbilder der hessischen Verfassung s. namentlich Seydel,
Bayr. StR. II S. 316 ff.; v. Sarwey, Staatsrecht d. Kgr. Württemberg, B. II (1883)
S. 4 ff. (s. dort besonders die Hinweise auf die württemberg. Verfassungsvorentwürfe); Walz,
Bad. St RK., S. 208 ff.; Franz Rosin, Gesetz und Verordnung nach bad. Staatsrecht (siehe
dort besonders die eingehenden Ausführungen über die Freiheits= und Eigentumsformel) S. 7 ff.;
Anschütz, Die gegenwärtigen Theorien, bes. S. 167, und meine Besprechung der letzteren
Schrift in Krit. Vierteljahrsschrift usw. 3. F. B. 10 (1904) S. 116.
2) Es ist hier leider nicht der Platz, auf die abweichenden Meinungen näher einzugehen.
Die wertvollen Ausführungen Thomas in s. Werke „Der Polizeibefehl im badischen Recht,
erster Teil (1905), bes. S. 118 f. und Franz Rosins in der vorbez. Dissertation (vgl. auch
das Referat von Thoma hierüber i. Arch. f. öff. R. B. 28 (1912) S. 573 ff.) rechtfertigen m. E.
allerdings die Behauptung, daß bei der verfassungsmäßigen Abgrenzung der landesherrlichen
und der ständischen Befugnisse den Landständen nicht überall die bestimmende Mitwirkung bei
der gesamten Gesetzgebung überlassen werden wollte. Eine Beschränkung der ständischen
Legislative auf einzelne Teile der Gesetzgebung ist aber m. E. als Ausnahme, nicht als Regel
anzusehen, und nicht aus dem bloßen Gebrauch der Freiheits= und Eigentumsformel zu folgern
(vgl. Art. 72 u. 23 der H.).
3) Bgl. z. B. hessisches Verwaltungsrechtspflegegesetz von 1911, Art. 140.