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Die Gesetzgebung. g 64
auf den Erlaß, die Aufhebung, Abänderung und Ergänzung von Gesetzen (i. m. S.) grund-
sätzlich an die Zustimmung der Stände gebunden, die demnach mit ihm zusammen die
verfassungsmäßigen Faktoren der Gesetzgebung bilden.
Durch jene Bestimmung des Art. 72 ist auch für Hessen eine bestimmte Form für die
Aufstellung von Rechtssätzen geschaffen worden. Diese Form besteht in dem verfassungs-
mäßig näher geregelten Zusammenwirken der gesetzgebenden
Faktoren, als dessen Ergebnis das „Gesetz im formellen Sinn“ erscheint 1): Jedes mate-
rielle Gesetz (d. h. jeder Rechtssatz) bedarf — vorbehaltlich der in Art. 73. HV und anderwärts
ausdrücklich zugelassenen Ausnahmen — zu seiner Entstehung der Form des Gesetzes, oder
mit anderen Worten: Es muß zugleich Gesetz immateriellen Sinn und im for-
mellen Sinn sein.
Indessen gibt es neben diesem Normaltypus des Gesetzes (— Gesetz im materiellen uno
formellen Sinn) noch zwei weitere Arten von staatlichen Willensakten, welche — die eine wegen
ihres Inhalts, die andere wegen ihrer Form — ebenfalls den Namen von „Gesetzen“
tragen. Die eine Art wird repräsentiert durch die soeben erwähnten, zufolge ausdrücklicher
Ausnahmebestimmungen nicht an die Form des Gesetzes gebundenen „bloß materiellen
Gesetze“, das sind also vom Staate ausgehende oder autorisierte Rechtsvorschriften, welche
nicht in die Form des Gesetzes gekleidet sind, wie z. B. Polizeiverordnungen, Ortssatzungen
u. a. Die zweite Art wird repräsentiert durch diejenigen staatlichen Willensakte, welche sich ihrem
Inhalte nach nicht als Gesetze qualifizieren, welche aber aus irgendwelchen besonderen Gründen
der verfassungsmäßigen Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren unterstellt und dadurch in
die Form des Gesetzes gekleidet werden; sie werden korrekter Weise als „Gesetze im bloß
formellen Sinn“ bezeichnet (z. B. ein Gesetz über die Errichtung eines Landeskrieger-
denkmals).
Wenn im folgenden der „Gang der Gesetzgebung“ geschildert wird, so handelt es sich
dabei um die Darstellung desjenigen Verfahrens, welches in der Regel zur Schaffung von
Rechtssätzen benutzt wird, welches aber ausnahmsweise auch zur Vornahme anderer,
auf dem Gebiete der Verwaltung (bzw. auf dem der Rechtsprechungg))liegender
staatlicher Willensakte dient.
II. Dernormale Gangder Gesetzgebung. 1. Die erste verfassunsmäßige
Anregung zum Erlasse von Gesetzen, die sog. Gesetzesinitiative, geht entweder
vom Großherzog oder von den Landständen aus. Ist ersteres der Fall, so spielt sich dieser Vor-
gang in der Weise ab, daß die den fraglichen Gesetzesentwurf nebst Begründung enthaltende
„Regierungsvorlage“ den Landständen, in der Regel zunächst einer der beiden
Kammern, durch das zuständige Ministerium „mit Allerhöchster Ermächtigung Seiner König-
lichen Hoheit des Großherzogs“ „zur verfassungsmäßigen Beratung und Beschlußfassung“
mitgeteilt wird 3). Die Regierungsvorlage selbst wird nach der vorherigen ressortmäßigen Er-
ledigung der erforderlichen Vorarbeiten auf Grund kollegialischer Beratung und Beschluß-
fassung des Staatsministeriums nach Inhalt und Form festgestellt"). — Geht die Gesetzes-
initiative von den Landständen aus, so geschieht dies in der Weise, daß ein von einem oder
mehreren Ständemitgliedern ausgearbeiteter Gesetzesentwurf „von wenigstens zehn Mit-
gliedern“ in die betreffende Kammer eingebracht und alsdann nach Art einer Regierungs-
vorlage weiter behandelt wird 5). — Neben diesen beiden Wegen ist von der Verfassung (HV.
1) Bezüglich der unendlich reichhaltigen Literatur über die Unterscheidungen von Gesetzen
im eessellen Sinn und von Gesetzen im formellen Sinn verweise ich auf Laband, Kl. St.,
2) Zum Beispiel Amnestieerteilung.
3) Siehe Gesetz, die landständische Geschäftsordnung betreffend, vom 17. Juni 1874 (RBl.
S. 423) mit den späteren Abänderungen (van Calker, VersfG., S. 220 ff.), Art. 18. —
Beispiel: L V. II 1905/8, Drucks. 110, Regierungsvorlage, betr. die Gesetzentwürfe: 1. Die Ver-
waltungspflege usw.
4) Organisationsverordnung v. 15. III. 1879, § 4 Ziff. 3.
5) Siehe Geschäftsordnungsgesetz, Art. 19, durch welchen der die Gesetzesinitiative ausschließ-
lich dem Großherzoge vorbehaltende Art. 76 HV. eine entsprechende Modifikation erfuhr. (Be-