Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

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Die Gesetzgebung. g 64 
auf den Erlaß, die Aufhebung, Abänderung und Ergänzung von Gesetzen (i. m. S.) grund- 
sätzlich an die Zustimmung der Stände gebunden, die demnach mit ihm zusammen die 
verfassungsmäßigen Faktoren der Gesetzgebung bilden. 
Durch jene Bestimmung des Art. 72 ist auch für Hessen eine bestimmte Form für die 
Aufstellung von Rechtssätzen geschaffen worden. Diese Form besteht in dem verfassungs- 
mäßig näher geregelten Zusammenwirken der gesetzgebenden 
Faktoren, als dessen Ergebnis das „Gesetz im formellen Sinn“ erscheint 1): Jedes mate- 
rielle Gesetz (d. h. jeder Rechtssatz) bedarf — vorbehaltlich der in Art. 73. HV und anderwärts 
ausdrücklich zugelassenen Ausnahmen — zu seiner Entstehung der Form des Gesetzes, oder 
mit anderen Worten: Es muß zugleich Gesetz immateriellen Sinn und im for- 
mellen Sinn sein. 
Indessen gibt es neben diesem Normaltypus des Gesetzes (— Gesetz im materiellen uno 
formellen Sinn) noch zwei weitere Arten von staatlichen Willensakten, welche — die eine wegen 
ihres Inhalts, die andere wegen ihrer Form — ebenfalls den Namen von „Gesetzen“ 
tragen. Die eine Art wird repräsentiert durch die soeben erwähnten, zufolge ausdrücklicher 
Ausnahmebestimmungen nicht an die Form des Gesetzes gebundenen „bloß materiellen 
Gesetze“, das sind also vom Staate ausgehende oder autorisierte Rechtsvorschriften, welche 
nicht in die Form des Gesetzes gekleidet sind, wie z. B. Polizeiverordnungen, Ortssatzungen 
u. a. Die zweite Art wird repräsentiert durch diejenigen staatlichen Willensakte, welche sich ihrem 
Inhalte nach nicht als Gesetze qualifizieren, welche aber aus irgendwelchen besonderen Gründen 
der verfassungsmäßigen Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren unterstellt und dadurch in 
die Form des Gesetzes gekleidet werden; sie werden korrekter Weise als „Gesetze im bloß 
formellen Sinn“ bezeichnet (z. B. ein Gesetz über die Errichtung eines Landeskrieger- 
denkmals). 
Wenn im folgenden der „Gang der Gesetzgebung“ geschildert wird, so handelt es sich 
dabei um die Darstellung desjenigen Verfahrens, welches in der Regel zur Schaffung von 
Rechtssätzen benutzt wird, welches aber ausnahmsweise auch zur Vornahme anderer, 
auf dem Gebiete der Verwaltung (bzw. auf dem der Rechtsprechungg))liegender 
staatlicher Willensakte dient. 
II. Dernormale Gangder Gesetzgebung. 1. Die erste verfassunsmäßige 
Anregung zum Erlasse von Gesetzen, die sog. Gesetzesinitiative, geht entweder 
vom Großherzog oder von den Landständen aus. Ist ersteres der Fall, so spielt sich dieser Vor- 
gang in der Weise ab, daß die den fraglichen Gesetzesentwurf nebst Begründung enthaltende 
„Regierungsvorlage“ den Landständen, in der Regel zunächst einer der beiden 
Kammern, durch das zuständige Ministerium „mit Allerhöchster Ermächtigung Seiner König- 
lichen Hoheit des Großherzogs“ „zur verfassungsmäßigen Beratung und Beschlußfassung“ 
mitgeteilt wird 3). Die Regierungsvorlage selbst wird nach der vorherigen ressortmäßigen Er- 
ledigung der erforderlichen Vorarbeiten auf Grund kollegialischer Beratung und Beschluß- 
fassung des Staatsministeriums nach Inhalt und Form festgestellt"). — Geht die Gesetzes- 
initiative von den Landständen aus, so geschieht dies in der Weise, daß ein von einem oder 
mehreren Ständemitgliedern ausgearbeiteter Gesetzesentwurf „von wenigstens zehn Mit- 
gliedern“ in die betreffende Kammer eingebracht und alsdann nach Art einer Regierungs- 
vorlage weiter behandelt wird 5). — Neben diesen beiden Wegen ist von der Verfassung (HV. 
1) Bezüglich der unendlich reichhaltigen Literatur über die Unterscheidungen von Gesetzen 
im eessellen Sinn und von Gesetzen im formellen Sinn verweise ich auf Laband, Kl. St., 
2) Zum Beispiel Amnestieerteilung. 
3) Siehe Gesetz, die landständische Geschäftsordnung betreffend, vom 17. Juni 1874 (RBl. 
S. 423) mit den späteren Abänderungen (van Calker, VersfG., S. 220 ff.), Art. 18. — 
Beispiel: L V. II 1905/8, Drucks. 110, Regierungsvorlage, betr. die Gesetzentwürfe: 1. Die Ver- 
waltungspflege usw. 
4) Organisationsverordnung v. 15. III. 1879, § 4 Ziff. 3. 
5) Siehe Geschäftsordnungsgesetz, Art. 19, durch welchen der die Gesetzesinitiative ausschließ- 
lich dem Großherzoge vorbehaltende Art. 76 HV. eine entsprechende Modifikation erfuhr. (Be-
	        
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