156 Die Gesetzgebung. *64
Die vorstehenden, im Geschäftsordnungsgesetz noch näher ausgeführten Grundsätze
sind in beiden Kammern gleichmäßig zur Anwendung zu bringen 1). Alle Beschlüsse der einen
Kammer müssen der anderen Kammer zu gleichmäßiger Beratung und Beschlußfassung mit-
geteilt werden. Sind hiernach übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse der beiden Kammern
zustande gekommen, so ist damit von den Landständen die Ablehnung oder Annahme des Ge-
setzes beschlossen ?); hat nur eine Kammer zugestimmt, so gilt das Gesetz damit in der Regel
als abgelehnt.
Der sog. „Annahme des Gesetzes“ bedeutet, daß sich die Kammern mit dem von ihnen
beratenen Gesetzentwurf nach Form und Inhalt beschlußmäßig und in rechtsgültiger Weise
einverstanden erklärt haben; dabei können einzelne redaktionelle Anderungen, die Paragraphie-
rung, die Bestimmung über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes oder einzelner Teile
desselben, u. a. der einseitigen Feststellung durch die Regierung, vorbehalten bleiben.
3. Nachdem nunmehr der gemeinschaftliche Beschluß der Landstände in geschäftsordnungs-
mäßiger Weise zur Kenntnis der Regierung gebracht worden ist, steht diese vor der Frage der
Sanktionserteilung. Sodveit keine Vorbehalte der vorgenannten Art bestehen,
hat die Regierung (d. h. der Großherzog) keine Möglichkeit mehr, vor der Sanktionserteilung
von sich aus an Inhalt oder Form des angenommenen Gesetzentwurfs noch irgendeine Anderung
vorzunehmen. Indessen besteht keinerlei Zwang für sie, den mit oder ohne ihr Zutun fest-
gestellten Gesetzentwurf überhaupt zu sanktionieren, d. h. zum Gesetz zu erheben. Selbst wenn
ein den Landständen von der Regierung vorgelegter Regierungsentwurf von jenen wörtlich
angenommen worden sein oder wenn ein aus der ständischen Initiative hervorgegangener
Gesetzentwurf die volle Zustimmung der Regierung gefunden haben sollte, bleibt dem Groß-
herzog doch bis zu dem Augenblick der vollendeten Sanktionserteilung die volle Freiheit der
Entschließung darüber, ob er jenen Akt vornehmen will oder nicht. Auch bezüglich des Zeit-
punktes der Sanktionserteilung besteht keinerlei Bindung 3). Namentlich hat der Landesherr
beim Fehlen einer entgegengesetzten Verfassungsbestimmung die Möglichkeit, in dem sog.
Landtagsabschied 4) seine Entschließung in bezug auf die Beschlüsse des Landtags auszusetzen
und sich für einen beliebigen, keiner näheren Bezeichnung bedürftigen Zeitpunkt vorzubehalten,
mithin auch die Sanktionserteilung nach seinem freien Belieben über den Termin des Landtags-
schlusses hinaus zu verschieben.
Die Sanktion bezeichnet neben der in den Ausschuß- und Kammerverhandlungen und
in den Regierungsvorlagen zum Ausdruck kommenden Mitwirkung der Regierung bei der
1) Vxgl. oben §#.27.
2) Siehe Gesch OG. Art. 49, 50.
3) Cosack, S. 55, vertritt die Ansicht, die Genehmigung des Gesetzes müsse spätestens
mit der Beendigung des Landtags geschehen: „Denn mit der Beendigung verlieren die Land-
tagsbeschlüsse ihre Gültigkeit und können sie durch nachträgliche Genehmigung nicht wieder-
gewinnen.“ Diese Regel sei zwar nicht ausdrücklich festgesetzt, entspreche aber „dem Wesen der
hessischen Verfassung.“ Ich halte diese Meinung nicht für zutreffend: Die behauptete Ungültig-
keit der Landtagsbeschlüsse könnte ausschließlich in der sog. Diskontinuität der Sessionen ihren
Grund finden; diese Diskontinuität besteht aber nur für solche Geschäfte des Parlaments, welche
bis zum Schlusse einer Session vom Parlament selkst nicht erledigt worden sind, wozu
die fertig abgeschlossene Beschlußfassung über Gesetzesentwürfe nicht gehört. Was des weiteren
„das Wesen der hessischen Verfassung“ anlangt, so schränkt diese das grundsätzlich dem Landes-
herrn verbliebene Gesetzgebungsrecht nur insoweit ein, als hierüber ausdrückliche Bestimmung
getroffen ist — derartige Bestimmungen fehlen aber durchaus. Endlich ist noch auf den im Text
erwähnten, in praxi häufig vorkommenden Vorbehalt der Sanktion vermittels des Land-
tagsabschieds zu verweisen, der — selbst wenn der Cosacksche Standpunkt richtig
wäre — den Landesherrn m. E. zweifellos berechtigt, die Sanktionserteilung auf einen beliebigen
späteren Zeitpunkt hinaus zu verschieben. In der Tat ist denn auch die Sanktionserteilung schon
recht häufig erst nach der Wahl und dem Zusammentritt des neuen Landtags erfolgt, ohne daß
die Landstände hiergegen Widerspruch erhoben hätten. — Vgl. die eingehenden mit Beispielen
aus der hessischen Staatspraxis belegten Ausführungen von Ernst Pabst, Die Sanktions-
uang die Fens für Gesetze usw., Gießener Diss., Dessau 1909, besonders S. 7—9,
47 ff., 101 f.
4) Bezüglich der Bedeutung des in Hessen von alterher üblichen Landtagsabschieds s. Pabst
S. 8. Als Beispiel vgl. LV. 1908/11 I. K., Beil. 191, II. K. Drucks. 663.