Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

g 65 Die Verordnungen des Landesherrn und der Zentralbehörden. 161 
behalten). Zu einem Vorbehalt in bezug auf den Erlaß irgendwelcher andersartiger 
Anordnungen bestand bei der Abfassung des Art. 73 keinerlei Anlaß: Hatte doch der Art. 4 HV. 
dem Landesherrn ohnehin schon alle ihm bisher zustehenden, durch die Verfassung nicht aus- 
drücklich entzogenen Rechte der Staatsgewalt uneingeschränkt reseriert. 
Wenn sich also in Art. 73 neben dem Vorbehalte eines landesherrlichen Rechts- 
verordnungsrechts auch noch ein Hinweis auf andersartige Verordnungsbefugnisse des 
Großherzogs findet, so kann diesem Hinweise nicht eine konstitutive, sondern nur eine 
deklaratorische Bedeutung beigemessen werden. Die grundsätzliche Be- 
fugnis des Landesherrn, außerhalb des Gebietes der Legislative und der den 
Gerichten vorbehaltenen Rechtsprechung — also aufdem Gebieteder Exekutive — 
Anordnungen zutreffen ist bei der traditionellen Verteilung der staatlichen Macht- 
befugnisse im modernen konstitutionellen Staat etwas durchaus Selbstverständliches, und es 
bedarf zu ihrem Bestehen keiner ausdrücklichen Verfassungsvorschrift, außer eben der grund- 
legenden des Art. 4. Auch dierechtlichen Grenzen dieser Befugnisse sind in der Regel 
nicht in den Staatsgrundgesetzen aufgeführt, sondern sie ergeben sich aus den allgemeinen 
Prinzipien. Es gibt kaum ein neues Gesetz, welches dem Staate nicht neue Aufgaben stellte 
und ihn nicht zu entsprechenden Anordnungen an seine Behörden und Beamten und zur Vor- 
nahme der verschiedenartigsten sonstigen Verwaltungsakte veranlaßte. Für jede einzelne dieser 
Anordnungen und für jeden einzelnen weiteren Verwaltungsakt eine förmliche Delegation 
zu erteilen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Sie sind schlechthin als zulässig zu erachten, insolange 
sie keinen Eingriff in die Freiheit der Person oder des Eigentums enthalten, bzw. soweit sie 
ihre Rechtfertigung in dem besonderen Verhältnisse der staatlichen Anstalten, Behörden und 
Beamten gegenüber dem Staate finden. Geht eine Maßnahme über diese Grenze hinaus, 
so verliert sie den Charakter einer Verwaltungsmaßnahme und ist, solange ihr die Rechtfertigung 
durch ein Gesetz 2) fehlt, unzulässig. 
II. 1. Die erste Gruppe von Verordnungen, deren Erlaß dem Großherzog in Art. 73 
HV. vorbehalten ist, bilden: „Die zur Vollstreckung und Handhabung der 
Gesetze erforderlichen Verordnungen“s). Wenn wir diese Verordnungen 
hier der Kürze halber unter der Gesamtbezeichnung „Ausführungsverordnungen" 
zusammenfassen, so sollen damit nicht ohne weiteres alle allgemeinen Grundsätze auf sie für 
anwendbar erklärt werden, die sich aus dem Widerstreit der in der Literatur vertretenen Mei- 
nungen bezüglich des Wesens der Ausführungsverordnungen gewinnen lassen 4). Wir müssen 
uns vielmehr, um die Sonderart der Ausführungsverordnungen des Art. 73 richtig zu erkennen, 
möglichst eng an den Wortlaut der hessischen Verfassungsurkunde selbst anschließen, wobei 
wir im wesentlichen den überzeugenden Ausführungen Aulls a. a. O. folgen können. Nach 
Aull (S. 73) sind Handhabung und Vollstreckung Begriffe, die „sich ergänzen und zusammen- 
gehalten werden durch das Zweckmoment der Herstellung eines vom Gesetz gewollten Er- 
folges“. „Handhabung“ ist die auf die Durchführung des Gesetzcs gerichtete Tätigkeit, „Voll- 
—. — — — 
1) Auch die Tatsache, daß der Art. 73 seine Stelle nicht in dem Tit. I der Berfassungs- 
urkunde „Von dem Großherzogtum und dessen Regierung im allgemeinen“, sondern in dem 
Tit. VIII „Von den Landständen“ gefunden hat, spricht dafür, in den Vorschriften des Art. 73 
Ausnahmen von den in Art. 72 behandelten Befugnissen der Land- 
stände — also ein beschränktes selbständiges Gesetzgebungsrecht 
des Landesherrn — zu sehen. — Auch in den Verfassungen von Sachsen-Hildburghausen. 
(( 47) und Baden (§ 66) ist das landesherrliche Verordnungsrecht in den Titeln über die Wirk- 
samkeit der Landstände, also unter der Signatur einer Ausnahmebestimmung zugunsten eines 
landesherrlichen Gesetzgebungsrechts, geregelt. 
2) Als „Gesetz“ in diesem Sinne sind auch Normen des vorkonstitutionellen Rechts anzu- 
sehen, insoweit dieselben heute als konstitutionelle Gesetze zu gelten haben. Vgl. hierüber An- 
schütz, Die gegenwärtigen Theorien usw. S. 69; Thoma, Der Polizeibefehl im badischen 
Recht, 1 S. 103 ff. 
3) Siehe hierüber Aull S. 61—87. 
4) Vgl. hierüber Laband, RötR. II S. 129 ff.; Anschütz, Die gegenwärtigen 
Theorien ufw.,P und mein Referat über letztere Schrift in der „Kritischen Vierteljahrsschrift"“, 
B. 10 (1904) S. 103 f. 
van Calker, Hessen. 11 
 
	        
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