l65 Die Verordnungen des Landesherrn und der Zentralbehörden. 167
des Erlasses einer Notverordnung kann daher nur verlangt werden, daß ein „dringender“
Fall vorliegt, und daß dabei die „Sicherheit des Staats“ in Frage steht. Dagegen ist dem
hessischen Recht der anderwärts geltende Grundsatz, daß beim Erlaß einer Notverordnung
der Landtag nicht versammelt sein dürfe, nicht bekannt. Bezüglich des Inhaltes der Not-
verordnung beschränkt sich das hessische Recht auf die Forderung, daß diese Rechtsvorschrift
„das Nötige zur Sicherheit des Staates vorzukehren“ hat. Demnach sind Notverord-
nungen, die eine zwar nützliche und zweckmäßige, aber unnötige Anordnung
im Interesse der Staatssicherheit treffen, unzulässig.
Die Frage, ob eine Notverordnung nach Voraussetzungen, Form und Inhalt rechtlich
statthaft ist, entscheidet vorbehaltlich der nachträglichen Kontrolle durch die Volksvertretung
der Landesherr aus eigener Machtvollkommenheit.
Im übrigen gilt in bezug auf Form, Inhalt und Verkündigung der Notverordnungen
das gleiche wie für die unter Ziff. 1 und 2 erörterten Verordnungen.
4. Eine vierte, unmittelbar in der Verfassungsurkunde geregelte Art von Rechts-
verordnungen des Großherzogs sind die auf Grund des Art. 69 ergehenden Verordnungen
über die sechsmonatliche Forterhebung der bisherigen Auflagen
nach Ablauf der Verwilligungszeit. Sie sind an die Voraussetzung geknüpft, daß die Stände-
versammlung vor dem Zustandekommen eines neuen Finanzgesetzes aufgelöst wird, oder daß
„die ständischen Beratungen sich verzögern“, d. h. nicht rechtzeitig zum Abschluß gelangen,
um vor Beginn der neuen Finanzperiode ein Steuerausschreiben nach der Regel des Art. 67
erlassen zu können.
« Die auf Grund des Art. 69 erlassenen Verordnungen sind zufolge Art. 1 des Etatsrechts-
gesetzes vom 14. Juni 1879 (Rl. S. 471) dem Finanzgesetz und dem Hauptvoranschlag im
Sinne dieses Gesetzes gleichzuachten 1).
Im übrigen gelten für diese Verordnungen im Vergleiche mit den unter Ziff. 1—3 ge-
nannten keine Besonderheiten.
III. Während die Verfassungsurkunde nur von einem Verordnungsrecht des Groß-
herzogs spricht, hat sich schon bald nach dem Erlasse der Verfassungsurkunde eine bis in die
Gegenwart fortdauernde Ubung herausgebildet, wonach auch von den Ministerien inner-
halb ihres Geschäftskreises Rechtsverordnungen erlassen werden2). Diese ÜUbung knüpft an das
vorkonstitutionelle Verordnungsrecht der Ministerien an und wurde vermutlich — eine wissen-
schaftliche Spezialuntersuchung fehlt hierüber bisher — unter der stillschweigenden Annahme
fortgesetzt, daß der Großherzog befugt sei, das ihm durch Art. 73 HV. zugesicherte Ver-
ordnungsrecht an die Ministerien zu delegieren. Hiergegen ist selbstverständlich das Bedenken
zu erheben, daß der Landesherr grundsätzlichnicht berechtigt ist, aus eigener Macht-
vollkommenheit die ihm zustehenden Regierungsbefugnisse zur Ausübung an andere Per-
sonen — seien es auch staatliche Beamte oder Behörden — zu übertragen. Dieser Grundsatz
gilt an sich sowohl für das Gebiet der Verwaltung wie auch für das der Gesetzgebung.
Was den Erlaß von Rechts-(und Verwaltungs-) Verordnungen anlangt, muß aber wohl das
1) Bezüglich des durch Art. 69 geschaffenen Notsteuerrechts s. Noellner in Aegidi,
Zeitschrift f. deutsches Staatsrecht B. I (1867) S. 143.
2) Siehe z. B. das Ausschreiben des Ministeriums des Innern und der Justiz, die verbotene
Ausfuhr von Lumpen aus den Provinzen Starkenburg und Oberhessen betr., vom 23. X. 1822
(RBl. S. 501); ferner die von dem gl. Ministerium „aus allerhöchstem Spezialauftrag“ er-
lassene Verordnung zur Verhütung des Schlachtens usw. von ungesundem Schlachtvieh vom
2. X. 1838 (RBl. S. 368) und die Ministerialverordnung gl. Betreffs vom 6. VI. 1865 (RBl.
S. 597) sowie die Fleischbeschauordnung vom 10. IV. 1880 (RBl. S. 57); endlich die von dem
Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten „aus Allerhöchstem Auftrage“ erlassene Verordnung,
das Vorbeifahren der Dampf= und Segelschiffe aneinander usw. betr., vom 12. IV. 1843 (Rl.
S. 160), die in gleicher Weise von dem „Staatsministerium“ erlassene Polizeiordnung für die
Schiffahrt und Flößerei auf dem Main usw. vom 4. II. 1887 (RBl. S. 20) und die diese Polizei-
ordnung abändernde „Bekanntmachung"“ des Staatsministeriums vom 2. I. 1889 (RBl. S. 10.—
Die Beispiele für solche ministerielle, ohne ausdrückliche gesetzliche Delegation ergangene Rechts-
verordnungen lassen sich beliebig vermehren.