Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

6 Geschichtliche Einleitung. 84 
  
zulegen“. Nunmehr erfolgte in raschem, einmütigem Zusammenwirken der Kammerausschüsse 
und des Staatsministeriums die Vollendung des Verfassungswerks und die unveränderte 
Annahme der auf diese Weise festgesetzten verfassungsmäßigen Bestimmungen durch beide 
Kammern. Am 17. Dezember 1820 wurde die über das Verfassungswerk errichtete Urkunde 
vom Großherzog vollzogen 1). Damit wurde der hessische Staat eine konstitutionelle Monarchie. 
Die Verfassungsurkunde, welche sich in zahlreichen Bestimmungen unmittelbar und 
nahezu wörtlich an die kurz vorher ergangenen Verfassungsurkunden Bayerns, Württembergs 
und Badens anlehnt, entspricht im allgemeinen den bei ihrem Erlasse herrschenden konstitu- 
tionellen Ideen; namentlich gewährte sie der Volksvertretung die Kompetenz zur Mitwirkung 
bei der Gesetzgebung und bei der Steuerfestsetzung und gab eine sichere 
Garantie der den modernen Staat kennzeichnenden, in Hessen allerdings großenteils schon 
bestehenden Freiheitsrechte des Volkes. Dabei zeigt sie jedoch, im Gegensatz zu den 
übrigen deutschen Verfassungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in vielen Beziehungen 
einen bewußten Zusammenhang mit dem Rechte der vorkonstitutionellen Zeit, namentlich 
mit den altlandständischen Einrichtungen. Zugleich stehr sie in einzelnen Richtungen deutlich 
unter dem Einfluß der zur Zeit ihrer Entstehung von seiten des Deutschen Bundes mit großer 
Entschiedenheit verfochtenen Tendenzen einer möglichst engen Abgrenzung der landständischen 
Befugnisse gegenüber der „allumfassenden“" fürstlichen Gewalt (H V. Art. 66 und 4). Sie ver- 
tritt unter stillschweigender Verwerfung des damals in den süddeutschen Staaten so heiß um- 
kämpften Gedankens der „Volkssouveränität“ ausgesprochenermaßen den Standpunkt des 
„monarchischen Prinzips“. Trotz der großen Umwälzungen, welche sich seit 1820 vollzogen 
haben, und trotz der mannigfachen ausdrücklichen und stillschweigenden Abänderungen, welche 
die Verfassungsurkunde inzwischen erfuhr?:), sind ihre fundamentalen Bestimmungen bis auf 
den heutigen Tag die Grundlage für den verfassungsrechtlichen Zustand des hessischen Staates 
geblieben. 
§ 4. Das Verhältnis Hessens zu Gesamtdeutschland. I. Die Zugehörigkeit 
Hessens zum Deutschen Bunde, von deren staatsrechtlicher Bedeutung noch heute 
die längst veralteten Art. 1 und 2 HV. zeugen, äußert ihre tatsächlichen Wirkungen 
für Hessen insbesondere in dem mächtigen Einfluß des Bundes auf die innere Verfassung 
und Verwaltung des Staates. Die rechtlichen Folgen der Bundeszugehörigkeit bestanden 
namentlich in der durch die landesherrliche Publikation bedingten Rechtsverbindlichkeit 
der innerhalb der Bundeskompetenz ergehenden Bundesbeschlüsse und in der an die Mit- 
wirkung der Stände geknüpften Pflicht zur Erfüllung der verfassungsmäßigen Bundes- 
verbindlichkeiten, endlich in dem Anspruch des Staates auf die Gewährung des Bundesschutzes 
zur Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit, Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit, und 
in dem Recht auf Mitwirkung bei der Beschlußfassung in der Bundesversammlung nach näherer 
Vorschrift der Teutschen Bundesakte vom 5. Juni 1815 und der Wiener Schlußakte vom 15. Mai 
1820. Die Souveränität des hessischen Staates wurde, da der Deutsche Bund lediglich ein 
völkerrechtlicher Verein selbständiger Staaten war, durch die Bundesmitgliedschaft nicht berührt. 
1 Die innere Entwicklung Hessens in der Zeit seiner Bundeszugehörigkeit zeigt im großen 
und ganzen das gleiche Bild wie die Staatsgeschichte der anderen süddeutschen Staaten: Nach 
dem Erlaß der Verfassungsurkunde zunächst eine allgemeine Begeisterung des Volks und hoch- 
1) Die Verfassungsurkunde erscheint formell als oktroyiert; tatsächlich beruht sie jedoch, wie 
oben gezeigt wurde, auf einer Vereinbarung mit der Volksvertretung. Vgl. die eingehenderen 
Ausführungen über die Entstehungsgeschichte der H. V. nebst Quellenangaben bei van Calker, 
Hessische Verfassungsgesetze mit Einführung und Erläuterungen, 1906 (Ergänzungsheft 1912), 
S. 11—23, und die sehr gründliche Darstellung bei Andres. Bezüglich des Wesens der kon- 
Eiihionenten Monarchie s. van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen, i. Handbuch der 
Politik, Bd. I (1912), S. 138 ff. 
2) Siehe namentlich die vollständige Zusammenstellung der Abänderungsgesete bei Binding, 
Deutsche Staatsgrundgesetze, H. VIII, 2: Hessen, 2. A. 1912, XII ff.; van Calker V. 
S. 91—158. Bezüglich der neuesten Abänderungen, die sich zu das budgetrechtliche Verhältnis 
der beiden Kammern, das Zustandekommen formeller Gesetze, die Landtagswahlen und die 
Zusammensetzung der Landstände beziehen, s. die drei Gesetze vom 3. Juni 1911, RBl. S. 85 ff.
	        
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