8 Geschichtliche Einleitung. 84
Anzahl im Norddeutschen Bunde ergangener Gesetze als Deutscher Bundesgesetze (RBl.
S. 741 ff.). Eine am 13. Juni 1871 zwischen dem Großherzog von Hessen und dem Deutschen
Kaiser abgeschlossene Militärkonvention (RBl. S. 341) brachte die näheren Ausführungen
sowie einige wichtige Modifikationen der einschlägigen Vereinbarungen vom 15. November
1870 und der reichsverfassungsmäßigen Stellung des hessischen Kontingents 1).
Der Eintritt Hessens in das Deutsche Reich bedeutete, nachdem der hessische Staat schon
im Jahre 1867 das Opfer seiner Souveränität gebracht hatte, eine Reihe weiterer Beschrän-
kungen seiner staatlichen Unabhängigkeit, ohne jedoch Hessens Eigenschaft als Staat selbst auf-
zuheben. Der Grad der Beschränkung der staatlichen Selbständigkeit Hessens bestimmt sich
nicht nach hessischem Staatsrecht, sondern nach Reichsrecht und ist daher hier nicht im einzelnen
zu behandeln. Ganz allgemein läßt sich hierüber folgendes sagen 2):
1. In bezug auf eine beschränkte Zahl von Angelegenheiten hat das Reich sowohl die
Gesetzgebung als auch die Verwaltung selbst in Anspruch genommen, läßt also die von ihm
erlassenen Gesetze durchaus oder doch teilweise durch seinen eigenen Behörden- und Beamten-
apparat durchführen. Soweit dies der Fall ist, ist die Tätigkeit des hessischen Staates voll-
kommen ausgeschaltet; er erscheint hier lediglich als ein geographischer Distrikt, als Ver-
waltungsbezirkdes Reichs ohne jede selbständigen Befugnisse. Hierher gehört nament-
lich das Post- und Telegraphenwesen.
2. Bezüglich einer großen Zahl wichtiger Angelegenheiten ist nur das Recht der Be-
aufsichtigung und Gesetzgebung, nicht aber auch das Recht der Verwaltung auf das Reich
übergegangen. Hessen ist also hinsichtlich dieser Angelegenheiten, sobald das Reich von der ihm
zustehenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat, auf die eigentliche Verwaltung
beschränkt und fungiert gleichsam nur noch als Selbstverwaltungskörper unter Aussicht
des Reichs und nach Maßgabe der von diesem aufgestellten Regeln. Dieses Verhältnis be-
steht namentlich bezüglich der Mehrzahl der in RV. Art. 4 aufgeführten Angelegenheiten.
3. In allen übrigen Beziehungen ist Hessen ebenso wie die übrigen deutschen Einzel-
staaten hinsichtlich der Gesetzgebung und Verwaltung seiner staatlichen Angelegenheiten voll-
kommen frei. Die Unterordnung unter die Reichsgewalt ist hier nur insofern von Bedeutung,
als auch dieses einstweilen „reichsfreie“ Gebiet der einzelstaatlichen Autonomie
infolge der Kompetenz-Kompetenz des Deutschen Reichs zur Verfügung des Reichswillens
steht (RV. Art. 78). Im Besitze dieser Autonomie zeigt sich die Fortdauer des Staatscharakters
Hessens; denn die Rechte, die es kraft dieser Autonomie ausübt, sind orginäre eigene Rechte;
es verdankt sie nicht dem Deutschen Reich, sondern der historischen Tatsache, daß Hessen schon
vor der Reichsgründung ein politisches Gemeinwesen mit allen Qualitäten eines Staates war ).
Als Korrelat der dem Großherzogtum gegenüber dem Reiche obliegenden Pflichten
erscheint der Anspruch Hessens auf anteilmäßige Mitwirkung bei der Bildung des Reichs-
willens. Im Bundesrat, als dem Vertretungsorgan der Träger der Reichsgewalt, verfügt
Hessen ebenso wie seinerzeit im Plenum der Deutschen Bundesversammlung über drei
Stimmen") (RV. Art. 6). Zum Reichstag, dem Vertretungsorgan des deutschen Volkes im
Reich, entsendet Hessen neun Mitglieder.
Als Mitglied des Deutschen Reichs nimmt der hessische Staat Anteil an der Souveränität
und an der völkerrechtlichen Stellung des Gesamtstaats. Und ebenso wie der hessische Staat
in seiner Eigenschaft als Reichsmitglied und als früherer souveräner Staat die völkerrechtlichen
Ehrenrechte eines souveränen Staates auch heute noch ausübt, genießt sein Landesherr als
Vertreter des Staates und als früherer Souverän auch heute noch die „persönliche“ Souve-
ränität und die damit verbundenen staatlichen und völkerrechtlichen Ehrenrechte 5).
1) Siehe van Calker, Verf G., S. 174 ff. u. unten § 116, sowie Werner a. a. O.
2) Vgl. Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, 5. Aufl. (1909), S. 26f f.; Staatsrecht
des Deutschen Reiches, 5. Aufl. (1911), Bd. I S. 101 ff.
3) Vgl. Laband, StR., S. 17 ff.
4) Die vom Großherzog ernannten Bundesratsbevollmächtigten (3) unterstehen ebenso
wie ihre Stellvertreter (3) dem Staatsministerium.
5) Vgl. Laband, StR. I S. 101.