10 Die natürlichen Grundlagen des Staatswesens. Das Staatsgebiet. 86. 7
86. Die rechtliche Bedeutung des Staatsgebiets 1). Das Staatsgebiet bildet den
raäumlichen Bereich, innerhalb dessen der Staat die ihm als solchem zukommenden Herr-
schaftsrechte ausübt. Es ist der Bereich, innerhalb dessen der Staat selbst, dem Begriffe
nach, jede theoretisch mögliche Einwirkung auf den Grund und Boden, auf den Luftraum,
und auf die in, auf oder über dem Boden befindlichen Personen und Sachen vor-
nehmen und jede fremde Einwirkung verbieten kann. Das Vorhandensein einer der-
artigen Machtbeziehung zu einem bestimmten abgegrenzten Teile der Erde ist ein Wesens-
merkmal des Staates. Die Gesamtheit der dem Staate innerhalb seines Gebietes zustehenden
Befugnisse wird als Gebietshoheit bezeichnet.
Der hessische Staat befindet sich im vorstehenden Sinne sowohl in positiver wie in nega-
tiver Richtung unbestritten im Besitze der Gebietshoheit über das obengenannte Gebiet.
Seine Gebietshoheit ist jedoch nicht, wie beim souveränen Staat, eine schlechthin ausschließ-
liche, sondern sie ist staatsrechtlich dadurch beschränkt, daß über ihr die Gebietshoheit des Deut-
schen Reiches steht. Diese Beschränkung äußert sich darin, daß sie den Staat nicht nur zu
bestimmten Unterlassungen und Duldungen (z. B. Unterlassung von feindseligen Handlungen
gegen das Reich, Duldung von Eisenbahnen im Interesse der Reichsverteidigung, RV. Art. 41),
sondern auch zu bestimmten Handlungen (z. B. Gewährung von Rechtshilfe gemäß RVG. 88 1567
bis 169) zwingt. Neben den in der Reichsmitgliedschaft begründeten Beschränkungen der
Gebietshoheit bestehen noch zahlreiche weitere Beschränkungen, welche teils in besonderen
Staatsverträgen 2), teils in allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts (z. B. über Exterri-
torialität) ihren Grund finden.
&+ 7. Gebietsveränderungen. „Das Großherzogtum bildet“ gemäß HV. Art. 3 „in
der Gesamt-Vereinigung der älteren und neueren Gebietsteile, ein zu einer und derselben
Verfassung verbundenes Ganze' 3). Mit diesen Worten stellt die hessische Verfassung,
ähnlich wie die übrigen deutschen Verfassungsurkunden, den Grundsatz der Unteil-
barkeit des Staates auf"). Wenn auch der Terminus „unteilbar“ in Art. 3 nicht
ausdrücklich gebraucht ist, so ist doch ohne weiteres klar, daß jede Teilung des Staates
dem Art. 3 widersprechen würde; denn, was einmal geteilt ist, ist kein „Ganzes“ mehr 5)
und ein Gebietsteil, der von Hessen losgetrennt („geteilt“) würde, stünde nicht mehr
unter „einer und derselben Verfassung“. Jeder staatliche Akt, welcher einen Teil des
Staatsgebietes aus der bisherigen Vereinigung loslöst, erscheint demnach als Verfassungs-
änderung und ist somit an deren Voraussetzungen gebunden 6). Dies gilt, da in Hessen im
Gegensatz zu anderen Staaten entsprechende Ausnahmebestimmungen fehlen, auch für gering-
fügige Grenzberichtigungen, Gebietsaustausche u. dgl. Werden durch eine Gebietsveränderung
Rechte oder Rechtssätze des Deutschen Reichs berührt, so ist neben der Erfüllung der landes-
rechtlichen Voraussetzungen auch noch Genehmigung von seiten des Reichs erforderlich. Dieser
Fall wird stets vorliegen bei einer Gebietsabtretung an einen ausländischen Staat, dagegen
nur ausnahmsweise bei einer Gebietsabtretung an einen deutschen Bundesstaat. Die ein-
schlägigen Fragen gehören dem Reichsstaatsrecht an.
Was im vorstehenden über „Gebietsveränderungen“ gesagt ist, gilt in gleicher Weise
für Gebietsabtretungen wie für Gebietserwerbungen. Der begriffliche Umfang des Groß-
1) Bezüglich der einschlägigen Streitfragen vgl. Fricker, Gebiet und Gebietshoheit (Fest-
gabe f. Albert Schäffle), Tübingen 1901 u. mein Referat über diese Abhandlung, Kritische
Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung usw., 1905, S. 603—623. S. auch Fleischmann,,
„Landesgrenzen“, Wörterbuch d. Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. II.
2) Vgl. z. B. den obengenannten Staatsvertrag über die Aufhebung des Kondominats
Kürnbach, Art. 3; RBl. 1904 S. 411.
3) Art. 3 HW. ist augenscheinlich dem Tit. 1 *.# der bayr. Verf. nachgebildet; vgl. mit
letzterer Bestimmung aber auch Tit. III & 1 a. a.
4) Vgl. hierzu die anscheinend wenig beachtete bhandlung C. F. v. Gerbers, „Über
die Telbonlbe deutscher Staatsgebiete“, i. Acgidi, Zeitschr. f. Deutsches Staatsrecht, Bd. I
S. 5 ff (Berlin 1867).
5) Siehe hierzu die Ausführungen über die Erbverbrüderungen in §& 13.
6) Vgl. Seib, Der Abschluß von Staatsverträgen i. Großh. H., Gieß. Diss., Gießen 1910, be-
sonders S. 12ff. „e7f. S . a. Fleischmann, „Landesgrenzen“, Wörterb. d. St.- u. Verw.-R. V. II.