254 Die wirtschaftliche Verwaltung. *98
hat jedoch aus Zweckmäßigkeitsgründen auf einen großen Teil der ihm rechtlich zukommenden
Eisenbahnhoheitsrechte der Ausübung nach vertragsmäßig verzichtet 1).
I. Der Staatsvertrag zwischen Hessen und Preußen über die
gemeinschaftliche Verwaltung des beiderseitigen Eisenbahn-
besitzes vom 23. Juni 1896, RBl. S. 169, hat folgenden Rechtszustand begründet 2):
1. Die von beiden Seiten zu übernehmenden Bahnstrecken — das waren, abgesehen
von bestimmten Ausnahmen, die sämtlichen Staatseisenbahnen der kontrahierenden Staatens) —
wurden zu einer Betriebsgemeinschaft vereinigt. Dabei wurde zugleich ausgemacht,
daß alle dem Eisenbahnbesitze beider Staaten künftig hinzutretenden Bahnen, sofern nicht
auf Wunsch der hessischen Regierung im einzelnen Falle ausdrücklich eine Ausnahme hiervo#n
vereinbart wird, gleichfalls von der Gemeinschaft betrieben werden (Art. 6).
2. Der Betrieb der vereinigten Bahnen soll (im Sinne einer Finanzgemein-
schaft) für Rechnung beider Staaten in der Weise erfolgen, daß alle Betriebseinnahmen
und Betriebsausgaben als gemeinsam gelten und der Einnahmeüberschuß nach einem näher
vereinbarten, hauptsächlich nach den früheren Betriebsergebnissen bemessenen, Maßstab ver-
teilt wird (Art. 7 ff.). Die Verwaltung geschieht nach den jeweiligen preußischen Vorschriften
auf Grund eines nach Anhörung der hessischen Regierung von Preußen für die Gesamtheit
aufgestellten Etats. Für den hessischen Staatshaushalt kommt demnach nur der hessische Anteil
am Betriebsüberschusse, sowie die Aufbringung der Mittel für die auf hessische Rechnung ent-
fallenden außerordentlichen Ausgaben in Betracht (Art. 12). —
3. An der Organisation der Gemeinschaftsverwaltung ist H. in
folgender Weise beteiligt: Die oberste Leitung der Eisenbahngemeinschaft steht dem Kal.
Preuß. Ministerium der öffentlichen Arbeiten zu. Bei dieser Zentral-
behörde wurde eine etatsmäßige Stelle für einen hessischen Vortragenden Rat geschaffen.
Die unmittelbare Verwaltung und Beausfsichtigung der in die Gemeinschaft eingeworfenen
hessischen Strecken erfolgt durch die Eisenbahndirektionen in Mainz und in Frankfurt a. M.,
deren erstere, von bestimmten Ausnahmefällen abgesehen "), die Bezeichnung „Königlich
Preußische und Großherzoglich Hessische Eisenbahndirektion“ führt. Für diese beiden Direktions-
bezirke besteht bei der Kgl. Preuß. Eisenbahndirektion Frankfurt ein gemeinschaftlicher, nach
dem preußischen Gesetz vom 1. Juni 1882 gebildeter Bezirkseisenbahnrat, der
aus Vertretern des Handels, der Industrie und der Land= und Forstwirtschaft zusammen-
gesetzt ist 5) und zwei hessische Vertreter in den Landeseisenbahnrat zu entsenden
hat (Art. 18). Die Dienststellen auf hessischem Gebiete (Eisenbahn-Betriebs-, Verkehrs-, Maschi-
nen- und Werkstätten-Inspektionen usw.) werden als „Großherzoglich Hessische“ bezeichnet,
füten 1174,2 km auf hessisches, 75,8 km auf nichthessisches Gebiet. Das Gesamtanlagekapital
r hessischen Eigentumsstrecken belief sich im Jahre 1910 auf 345 480 323 Mk., der Nominal-
betrag der Eisenbahnschuld auf 329 048 280 Mk. — S. bezüglich dieser und weiterer statistischer
Angaben die Mitteilungen der Zentralstelle f. d. Landesstatistik Nr. 912.
1) Bezüglich der Entwicklung des hessischen Eisenbahnwesens bis zum Jahre 1896 siehe
namentlich Zeller II, S. 213 ff.; Braun u. Weber IV S. 72 ff.; Cosack S. 115 ff.
Letzterer befaßt sich hauptsächlich eingehend mit der inzwischen praktisch erledigten Frage der
Verstaatlichung der hess. Ludwigsbahn. Vgl. hierzu die als Manustript gedruckten Gutachten
von Laband und Georg Meyer (s. Literaturverzeichnis) und den unten angeführten hessisch-
preußischen Eisenbahnvertrag Art. 1. Hinsichtlich der Entwicklung von 1897—1907 s. die Re-
gierungsdenkschrift LV. II 1905/8, Drucks. Nr. 732; bezüglich der weiteren Entwicklung und
der Frage einer Revision des Gemcinschaftsvertrags s. namentlich A. Grooß, Die hessischen
Eisenbahnen unter preußischer Verwaltung, 1908; Kendso Totsuka, Geschichte des Hessischen
Eisenbahnwesens, Gießener Diss., 1909; Biermer, Die Preußisch-Hessische Eisenbahngemeinschaft
(Sammlg. II, H. 8 u. 9), 1911; Biermer, Die hessf. Eisenbahnfrage n. d. Landtagsschlusse,
Darmst. Tägl. Anzeiger 1911, Nr. 162—164; s. endlich mehrere Artikelreihen von Offenberg
und von Grooß in der Frankfurter Zeitung 1911 Nr. 79, 80; 101, 108, 109; 156, 157.
2) Die einschlägigen Verhandlungen des hess. Landtags s. LV. II, Prot B. III Nr. 79—84;
Drucks. B. IV. Nr. 561 5563, 568 samt Anlagen.
3) Bezüglich der Main-Neckarbahn s. unter II.
4) Siehe Schlußprotokoll z. vorbez. Vertrag Ziff. XIII.
5) Bezüglich der Wahl der hessischen Mitglieder s. Allerh. V O. v. 7. IV. 1897, RBl. S. 71,
17. VII. 1907, RBl. S. 315, i. d. F. v. 3. VIII. 1910, RBl. S. 175.