294 Die Verwaltung des Heereswesens. g 116
Weise, wie dies bei Seib (S. 107 ff.) geschieht, m. E. nicht gemacht werden. Eine auf
dem Papier vollzogene Gebietsabtretung ist ebenso wenig ein fait accompli wie eine papiererne
Annexion sie ist ebenso wenig wie diese identisch mit dem tatsächlichen Wechsel des Imperiums.
Der Erfolg tritt also hier nicht, wie Seib anzunehmen scheint, unmittelbar durch den Ver-
tragsabschluß, sondern — wenn überhaupt — erst durch die nachfolgenden Ereignisse ein.
Das gleiche gilt von dem Verzicht auf Forderungen oder Rechte: Das Erlöschen von Forderungen
oder Rechten durch Verzicht setzt nach staats- und völkerrechtlichen Grundsätzen in gleicher Weise
die Rechtsgültigkeit des Verzichts voraus, wie dies nach Zivilrecht der Fall ist. So-
lange dem Verzicht ein rechtlicher Mangel anhaftet, kann der Staatsvertrag als solcher den
gewünschten Erfolg überhaupt nicht herbeiführen. —
Für den Fall, daß ein Staatsvertrag nach den vorstehenden Grundsätzen der Zustimmung
der Volksvertretung bedarf, sind drei Möglichkeiten zu unterscheiden: a) Die Ratifikation des
Staatsvertrags durch den Großherzog erfolgt erst nach Einholung der Zustimmung der Land-
stände. Dieses Verfahren bildet mit Recht die Regel. b) Die Ratifikation wird zwar vor er-
folgter Zustimmung der Landstände vorgenommen, bei der Ratifikation wird jedoch die
Einholung der ständischen Zustimmung ausdrücklich vorbehalten. Dieses Verfahren erscheint
für alle diejenigen Fälle als zweckentsprechend, in welchen die vorherige Befragung der Volks-
vertretung eine Schädigung wichtiger Staatsinteressen bedeuten würde. c) Die Ratifikation
erfolgt ohne vorherige Einholung und ohne Vorbehalt der Zustimmung der Landstände.
Auch dieses Verfahren ist rechtlich möglich, es setzt aber den Landesherrn in noch höherem
Maße als das unter b) genannte Verfahren der Gefahr einer Desavouierung durch die Kammern
aus. In allen drei Fällen aber gilt in gleicher Weise der Grundsatz: Sofern der Staatsvertrag
aus staatsrechtlichen Gründen der Zustimmung der Landstände bedarf, ist sowohl seine staats-
rechtliche wie seine völkerrechtliche Wirksamkeit durch die Einholung dieser Zustimmung bedingt. —
Bezüglich der hessischen Staatspraxis und aller Einzelfragen muß auf die Seib'schen Aus-
führungen verwiesen werden.
Neuntes Kapitel.
Die Perwaltung des Beereswesens.
5s# 116. Heereswesen 1). Die seit dem Jahre 1806 souveräne Militärhoheit des hessi-
schen Staates, über deren Ausübung durch den Großherzog der Artikel 74 HV. nähere Be-
stimmung trifft, hatte schon vor dem Eintritt Hessens in das Deutsche Reich einige wesentliche
Einschränkungen teils völkerrechtlicher, teils staatsrechtlicher Natur erfahren. Von besonderer
Bedeutung waren zunächst die auf Bundesbeschlüssen — also auf völkerrechtlichem Vertrag —
beruhenden „Grundzüge der Kriegsverfassung des Deutschen Bundes“ vom 9. April 1821
und die „Näheren Bestimmungen der Kriegsverfassung“ vom 12. April 1821 und vom 11. Juli
1822. Weit erheblichere Beschränkungen, und zwar bereits solche staatsrechtlicher Natur, brachten
nach der Auflösung des alten Deutschen Bundes die Vorschriften des preußisch-hessischen
Friedensvertrags vom 3. September 1866 und der Norddeutschen Bundesverfassung, sowie
die Bestimmungen der preußisch-hessischen Militärkonvention vom 7. April 1867 und des
Schutz= und Trutzbündnisses vom 11. April 1867. Die deutsche Reichsverfassung ordnete das
Rechtsverhältnis zwischen Reich und Einzelstaat auf dem Gebiete des Heereswesens in einer
Weise, die zwar nicht dem Bedürfnisse nach juristischer Klärung, wohl aber dem nach militär-
technischer Vereinheitlichung des deutschen Heereswesens Rechnung trug und zugleich die
Möglichkeit offen ließ, dem letztgenannten Ziele durch vertragsmäßige Abmachungen der
Einzelstaaten noch näher zu kommen.
1) Vgl. zum folgenden Heinrich Werner, Die militärstaatsrechtliche Stellung des Groß-
herzogs von Hessen, Gießener Diss. 1910, auf dessen eingehende Untersuchungen bezüglich aller
Einzelheiten und Zweifelfragen verwiesen werden muß. — Hinsichtlich der besonderen Stellung
des Großh. Hess. Gendarmeriekorps s. Bek. v. 24. VI. 1901, RBl. S. 387, und vom
14. XII. 1903 (Dienstordnung), RBl. 1904 S. 1. Die unten behandelte Militärkonvention v.
13. VI. 1871 findet gemäß ihrem Artikel 23 auf das Gendarmeriekorps keine Anwendung.