8 12 Die besonderen Klassen unter den hessischen Staatsangehörigen. 19
Aufhebung aller Steuerfreiheiten und von den nur wenige Jahre in Kraft gewesenen Be-
stimmungen der Rheinbundsakte absehen, zunächst durch ein landesherrliches Edikt vom
17. Februar 18201) bestimmt, welches durch Art. 37 HV. zu einem Bestandteil der Verfassungs-
urkunde erklärt wurde. Während dieses Edikt den Standesherrn einen großen Teil ihrer
früheren landeshoheitlichen Befugnisse beließ und jene quasi als „Unter-Landesherrn“ be-
handelte 2), erfolgte durch das Gesetz, die Verhältnisse der Standesherrn und adeligen Gerichts-
herrn betreffend, vom 7. August 1848 (Nl. S. 237) die Aufhebung nahezu aller standes-
herrlichen Vorrechte. Die Grundlage des heutigen Rechtszustandes bildet neben einigen
Einzelbestimmungen der Verfassungsurkunde das Gesetz, die Rechtsverhältnisse der Standes-
herrn des Großherzogtums betreffend, vom 18. Juli 1858 (RBl. S. 329), welches einen großen
Teil der früheren standesherrlichen Sonderrechte wiederherstellte. Die Sonderrechte, welche
den „Standesherm“ — und zwar teils nur den Häuptern der standesherrlichen Familien,
teils allen Mitgliedern dieser Familien — nach dem geltenden Rechte zukommen,
sind die folgenden 5):
1. Zufolge Art. 14 HV. haben die in dem Besitze einer oder mehrerer Standesherr-
schaften sich befindenden Häupter der standesherrlichen Familien ipso jure das Staatsbürger-
recht in dem oben (S. 17) erörterten Sinne. Sie genießen in dieser Beziehung gegenüber
den übrigen Staatsangehörigen insofern einen Vorzug, als sie im Gegensatz zu diesen nicht
behindert sind, neben der hessischen Staatsangehörigkeit jede beliebige außerdeutsche Staats-
angehörigkeit zu besitzen (siehe HV. Art. 14 II — ein Vorzug, der seine rechtliche Bedeutung
allerdings dadurch verloren hat, daß nach dem LstG. von 1911 das Wahlrecht und die Zu-
gehörigkeit zum Landtag durch die Verbindung der hessischen mit einer ausländischen Staats-
angehörigkeit nicht mehr berührt wird. Die weiteren Vorrechte der Standesherrn, wonach
sie gemäß Art. 49 Abs. 2 des Wahlgesetzes von 1872 auch vor Erreichung der Volljährigkeit
und gemäß Art. 7 und 15 des vorgenannten Gesetzes von 1858 auch ohne dreijährigen Wohnsitz
in Hessen, ja sogar, ohne überhaupt in Hessen zu wohnen“), ihr Anrecht auf Vertretung in der
I. Kammer geltend machen konnten, sind durch das LstG. von 1911 formell beseitigt und
materiell in der unten in § 22 1 Z. 2 geschilderten Weise modifiziert worden.
Die im Besitze einer Standesherrschaft sich befindenden Häupter der standesherrlichen
Familien des Großherzogtums sind auf Grund ihres standesherrlichen Besitzes geborene Mit-
glieder der I. Kammer. Bezüglich der Ausübung dieses Rechtes im einzelnen s. unten S. 44 f.
2. Die Mitglieder der standesherrlichen Familien gehören zum hohen Adel und
genießen das Recht der Ebenbürtigkeit (mit den regierenden Häusern) im Sinne der deutschen
Bundesakte (a. a. O. Art. 2) 3).
3. Die Mitglieder der standesherrlichen Familien sind nicht wehrpflichtig (s. RG., be-
treffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst, vom 9. Nov. 1867 KF 1) und genießen für ihre
zu den standesherrschaftlichen Besitzungen gehörigen, zu ihrem Wohnsitze bestimmten Gebäude
Befreiung von der Friedensquartierlast und von den mit dieser verbundenen Verpflichtungen
(BG., betreffend die Quartierleistung für die bewaffnete Macht während des Friedens-
zustandes, vom 25. Juni 1868, § 4: RG. über die Naturalleistungen für die bewaffnete Macht
im Frieden, vom 13. Februar 1875, F 4).
Stimmen in der hess. I. Kammer und im preuß. Herrenhause ruhen. Die Ausführungen Weyls
liefern m. E. den einwandfreien Beweis, daß die gesamte aus der unebenbürtigen Ehe des
Grafen Friedrich Ludwig Christian von Altleiningen-Westerburg mit Eleonore Breitwieser her-
vorgegangene Deszendenz — und damit die ganze Alt-Leininger Linie — nicht zum standes-
herrlichen Adel gehört.
1) Siehe Vollgraff, BeilBd., Beil. 27.
2) Vgl. Vollgraff a. a. O. S. 334.
3) Vgl. bes. He 6 er S. 93ff. Privilegien, welche der Natur der Sache nach heute nicht mehr
als solche gelten können, werden hier nicht mehr genannt.
4) Vgl. H V. Art. 14 II, Bundesakte Art. 14 b Ziff. 1; Deutsches Staatswörterbuch X S. 177.
5) Vgl. Frhr. v. Dun gern, Das Problem der Ebenbürtigten,. München u. Leipzig
1905; Piloty, Das Recht der Ebenbürtigkeit usw., bes. S. 27, und Frhr. v. Dungern,
Grenzen des Fürstenrechts, München u. Leipzig 1966.
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