Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

302 Das Rechtsverhältnis zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften. §+ 117 
  
  
Fall ist erforderlich: u) Antrag des Austretenden auf Aufnahme der Austrittserklärung an das 
Amtsgericht des Wohnortes, J) gerichtliche Bekanntgabe dieses Antrages an den Vorstand 
der (alten) Kirchengemeinde, y) frühestens 4 und spätestens 6 Wochen nach der Antragstellung 
protokollarische Aufnahme der Austrittserklärung durch das Gericht 1). Diese Formen sind auch 
in dem ersterwähnten Falle insoweit erforderlich, als die Befreiung von der Beitragspflicht 
zu den finanziellen Lasten des bisherigen Verbandes herbeigeführt werden will (Art. 2 u. 3). 
Die Befreiung von den auf der Gemeindeangehörigkeit beruhenden persönlichen Leistungen 
tritt, wenn die Austrittserklärung in der ersten Jahreshälfte erfolgte, mit dem Schlusse dieses 
Jahres, anderenfalls erst mit dem Schlusse des auf die Austrittserklärung folgenden Jahres 
ein. Zu den Kosten eines außerordentlichen Baus, dessen Notwendigkeit vor Ablauf des Jahres 
der Austrittserklärung festgestellt ist, hat der Austretende bis zum Ablauf des zweiten, auf die 
Austrittserklärung folgenden Jahres beizutragen. Beim Vorhandensein schulpflichtiger Kinder 
kann der Erziehungsverpflichtete jedoch unbeschadet seines Austritts zu den finanziellen Lasten 
der verlassenen Kirche oder derjenigen anderweitigen Religionsgemeinschaft, deren Religions- 
unterricht die Kinder besuchen, herangezogen werden 2). Eine völlig religionslose Erziehung 
ist vor Eintritt des 14. Lebensjahres (diskretionsfähiges Alter) 3) nicht statthaft. Im übrigen 
sind bezüglich der religiösen Erziehung der Kinder die Bestimmungen des hess. AG. z. BGB. 
Art. 108—116 maßgebend. 
II. Die Verfassung der evangelischen Kirche). Die evangelische 
Kirche Hessens begreift, unbeschadet des Bekenntnisstandes der einzelnen Gemeinden, alle 
lutherischen, reformierten und unierten Gemeinden in sich (F5 1). Ihre Verfassung beruht 
auf dem Grundsatze des Summepiskopates des evangelischen Landesherrn. Dieser bedient 
sich zur Ausübung des ihm herkömmlich zustehenden Kirchenregiments des Oberkonsisto- 
riums, welches die höchste kirchliche Behörde bildet (§§ 4, 129 ff.). Das Oberkonsistorium 
besteht aus dem Präsidenten und der nötigen Zahl geistlicher (z. Z. 3) und weltlicher (z. Z. 2) 
Mitglieder. Jedes der geistlichen Mitglieder dieser Behörde ist zugleich Superintendent 
für einen ihm zuzuweisenden Sprengel. Die drei Superintendenturen (Darmstadt, Gießen, 
Mainz) umfassen je eine Anzahl Dekanate und haben im wesentlichen Aufsichtsbefugnisse 
(F 132). Die Dekanate sind größere, je aus mehreren evangelischen Kirchengemeinden 
bestehende Bezirke, welche je einem Dekane als geistlichem Vorsteher und kirchlichem Leiter 
unterstellt sind (§§ 127, 1285). Geistliche Vorsteher der Gemeinden sind die Pfarrerz ihnen 
obliegt neben den rein geistlichen Aufgaben namentlich der Vorsitz im Kirchenvorstande und 
in der Gemeindevertretung, sowie die Leitung der Geschäfte beider (&§ 116 ff.). Die Be- 
setzung der Pfarreien erfolgt vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen (Patronatsstellen usw.) 
unter gesetzmäßiger Mitwirkung der Gemeinden durch den evangelischen Landesherrn auf 
Vorschlag des Oberkonsistoriums (S§ 115—126; Kirchengesetz v. 17. Xl. 1888, Kirchl. VOl. 
Nr. 17; Schmidt, Quellen S. 224, 9§ 1 ff.). Die Pfarrer haben nicht die Eigenschaft von 
Staatsbeamten 5), obgleich sie einige staatliche Funktionen zu versehen haben. 
Die geschilderte konsistoriale Organisation findet ihre Ergänzung in einem nach dem 
Prinzipe der Selbstverwaltung gestalteten System von synodalen Vertretungs- 
organen, welches seine Grundlage in den lokalen Kirchengemeindern hat. 
1) Vgl. im einzelnen A. B. Schmidt, Austritt S. 204—207, 260, 278—288, sowie 
A. B. Schmidt, Neue Beiträge zum Austritt aus der Kirche, i. d. Festschrift f. Friedberg, 
S. 73—114, insbes. S. 78 f. 
2) Der Geistliche ist verpflichtet, solche Kinder an dem Religionsunterricht in der Volks- 
schule teilnehmen zu lassen; so richtig Reidel S. 217. 
3) Siehe AG. zum BG. Art. 112. 
4) Edikt, die Verfassung der evangelischen Kirche des Großherzogtums betr., vom 6. Januar 
1874, RBl. S. 13; Schmidt, Quellen, S. 78 ff. — Bezüglich der Vorgeschichte und der 
Entstehung des Edikts vgl. die bei Schmidt a. a. O. angeführte Literatur. Bezüglich der 
sechs staatsfreien lutherischen Gemeinden des Gr. s. Karl Müller, Die selbständige evangelisch- 
lutherische Kirche in den hessischen Landen, Elberfeld 1906. Im übrigen vgl. Eger und 
Friedrich a. a. O.; B. I (verf. v. Friedrich; z. Z. im Druck) 19—29. 
5) Bezüglich der administrativen Funktionen der Dekane s. Schmidt, Quellen S. 113. 
6) Vgl. Co sack S. 142; a. A. Friedrich II, § 36, bes. wegen der kirchl. Vermögensverwaltg.
	        
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