Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

22 Die Organisation des Staates. Der Großherzog und das Großherzogliche Haus. 8 13 
  
Zweiter Abschnitt. 
Die Organisation des Staates. 
Erstes Kapitel. 
Der Großherzog und das Großherzogliche Baus. 
§ 13. Die Thronfolgeordnung. I. Die gesetzlichen Grundlagen des hessischen 
Thronfolgerechts 1) beschränken sich auf folgende Sätze der Verfassungsurkunde: 
„Die Regierung ist in dem Großherzoglichen Hause erblich nach Erstgeburt und Lineal= 
folge, vermöge Abstammung aus ebenbürtiger, mit Bewilligung des Großherzogs geschlossener 
Ehe“ (Art. 5 Abs. 1). „In Ermangelung eines durch Verwandtschaft oder Erbverbrüderung 
zur Nachfolge berechtigten Prinzen geht die Regierung auf das weibliche Geschlecht über. 
Hierbei entscheidet Nähe der Verwandtschaft mit dem letzten Großherzoge, bei gleicher Nähe 
das Alter“ (Art. 5 Abs. 2). „Nach dem Ubergange gilt wieder der Vorzug des Mannes- 
stammes“ (Art. 5 Abs. 3). Diese Sätze der Verfassung bedürfen in mehrfachen Beziehungen 
einer näheren Erklärung: 
1. Der Ausdruck „Regierung“ ist gleichbedeutend mit dem in anderen Verfassungen 
gebrauchten Ausdruck „Krone“ oder „Thron“. Regierung bedeutet also nicht „tatsächliche 
Ausübung der Regierungsgewalt“; die Ausübung der Regierungsgewalt kann vielmehr 
unter Umständen, z. B. bei Geisteskrankheit des Großherzogs, einer anderen Person zustehen 
als dem Träger der Krone. 
2. Die Regierung ist „#erblich“. Demnach ist jedem Throninhaber die Verfügung 
über die Thronfolge entzogen; die Thronfolge beruht, auch wenn die Thronerledigung etwa 
durch Verzichtleistung des bisherigen Throninhabers herbeigeführt wird, nicht auf dem Willen 
des letzteren, sondern auf dem verfassungsmäßig geregelten Erbrecht. 
3. Die Regierung ist in dem „Großherzoglichen Hause“ erblich. Hierbei 
ist in concreto selbstverständlich an das zur Zeit des Erlasses der Verfassung regierende und 
auch heute noch auf dem Throne befindliche Haus Hessen = Darmstadt zu denken. In- 
dessen muß dieser Ausdruck in abstracto in einem weiteren Sinne verstanden werden: Es liegt 
auf der Hand, daß Art. 5 Abs. 1 nicht den Zweck verfolgt, die Thronfolgeberechtigung des 
Hauses Hessen-Darmstadt auf den hessischen Thron neu zu statuieren. Diese Thronfolge- 
berechtigung stand längst vor dem Erlasse der HV. fest. Der Zweck jener Bestimmung ist viel- 
mehr der, die leitenden Grundsätze des Thronfolgerechts ein für allemal verfassungsmäßig 
festzulegen, sie also von der Hausgesetzgebung zu emanzipieren; nur die „diesen Grundsätzen 
entsprechenden näheren Bestimmungen“ wurden der Hausgesetzgebung überlassen. Unter 
„Großherzoglichen Hause"“ ist daher nicht etwa ausschließlich das Haus Hessen-Darmstadt oder 
das Gesamthaus Hessen, sondern schlechthin „das jeweils regierende Haus“, d. h. „das Haus 
des jeweiligen Großherzogs“ zu verstehen 5). 
4. Der Ausdruck „nach Erstgeburt und Linealfolge“ gibt nicht nur dem 
Erstgeborenen und dessen Linie den Vorzug vor dem Zweitgeborenen und dessen Linie, sondern 
er gibt auch dem Zweitgeborenen und Drittgeborenen und deren Linien usw. den Vorrang 
vor jedem später Geborenen und dessen Linie 5). 
5. Daß der Thronfolger stets dem Mannesstamme angehören mus, ist in Abs. 1 
des Art. 5 auffälligerweise nicht ausdrücklich gesagt. Es ergibt sich aber nicht nur aus dem im 
Hause Hessen-Darmstadt bestehenden, jahrhundertealten Herkommen “), sondern auch aus der 
1) Bezüglich des rechtlichen Charakters des Thronfolgeanspruchs s. Schücking, Der 
Staat und die Agnaten, 1902, bes. I 1 und 2. — Stammtafel d. hess. Hauses s. S. 24. 
2) In dem gleichen Sinne ist der Ausdruck „Großherzogliches Haus“ auch in Art. 52 Ziff. 1 
OV., bzw. in Art. 2 Ziff. 1 LstG. gebraucht. 
3) Vglgl. Otto Mayer, Sächs. St R., S. 53 f. 
4) Vgl. z. B. den hess. Brüdervergleich vom 28. V. 1568 & 4, Beck II S. 99.
	        
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