Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

42 Die Organisation des Staates. Die Volksvertretung. 8 20 
  
relevanten Verantwortlichkeit des Stellvertreters gegenüber der Volksvertretung nur noch 
insofern die Rede sein, als sein Verhalten den Kammern unter Umständen Anlaß geben könnte, 
eine gemeinschaftliche Beschwerde oder einen gemeinschaftlichen Wunsch im Sinne des Art. 78 
HV. an den Großherzog zu bringen. Ein derartiges Kollektivvorgehen der Stände würde 
jedoch rechtlich keine andere Bedeutung haben, als die, ein disziplinäres oder strafrechtliches, 
eventuell auch ein zivilrechtliches Einschreiten oder endlich die Erhebung der Ministeranklage 
an zuregen:). 
2. Spezialstellvertretung. Neben der geschilderten Generalstellvertretung 
ist, auch ohne ausdrückliche gesetzliche Erlaubnis, eine Spezialstellvertretung 
insoweit zulässig, als es sich nicht um die Ausübung von Rechten handelt, welche ihrem Wesen 
nach oder zufolge positiver Verfassungsvorschrift nur vom Landesherrn persönlich ausgeübt 
werden können 2). Von der rechtlichen Stellung des Spezialstellvertreters gilt, abgesehen 
von der engeren Begrenzung seines Auftrags, im wesentlichen das gleiche wie von derjenigen 
des Generalstellvertreters. 
Zweites Kapitel. 
Die olksvertretung. 
§.20. Die rechtliche Stellung der Volksvertretung im allgemeinen. Die hessischen 
Landstände 3) entsprechen hinsichtlich ihres Wesens und ihrer rechtlichen Stellung im all- 
gemeinen durchaus den Volksvertretungen der übrigen monarchisch-konstitutionellen deutschen 
Einzelstaaten. Sie bilden ein vorwiegend aus Wahlen der Bevölkerung hervorgehendes 
Staatsorgan, welches, ebenso wie der Landesherr, seine Kompetenzen unmittelbar auf 
die Verfassung des Staates gründet. Die Rechte, welche der Landtag im Staate auszuüben 
berufen ist, sind weder seine eigenen Rechte, noch Rechte des Volkes als eines dem Staate 
oder der Krone gegenüberstehenden Rechtsbegriffes, sondern Rechte des Staates, 
als der rechtlich organisierten Volksgemeinschaft 4). Demnach besteht zwischen den heutigen 
Landständen und den im Jahre 1806 abgeschafften alten Ständen, was deren inneres Wesen 
anlangt, trotz der Namensgleichheit der schärfste Gegensatz. Die letzteren sollten und wollten 
nichts anderes sein als ein dem Landesherrn — und den in ihm sich verkörpernden Macht- 
interessen — gegenüberstehendes Organ bestimmter einzelner Interessentenkreise; die ersteren 
aber sind ein aus der Gesamtheit des Volkes hervorgehendes Organ des Staates, welches 
dazu berufen ist, mit dem Landesherrn gemeinsam dem Staatsinteresse zu dienen. Daher 
darf vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen heute kein Mitglied einer Kammer sein Stimm- 
1) Meyer-Anschütz S. 286 geht auf die Verantwortlichkeit des Stellvertreters über- 
haupt nicht näher ein; Anschütz, Enzykl. II 576, spricht nur ganz kurz von einer Verant- 
wortlichkeit gegenüber dem Vollmachtgeber und gegenüber „dritten". Cosack S. 14 erklärt 
den Stellvertreter schlechthin für voll verantwortlich. Nach v. Frisch, S. 146 f. (vgl. auch 
die dortigen Literaturangaben) ist der Stellvertreter „dem Monarchen verantwortlich für ge- 
wissenhafte Ausführung der Aufträge und den Gerichten rechtlich für seine Handlungen wie 
jedermann,“ dagegen trägt er keine Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung. 
2) Vgl. Meyer-Anschütz S. 286. — Die Bevollmächtigung zur Vornahme einzelner, 
an sich dem Großherzog vorbehaltenen Regierungsakte, ist in Hessen sehr häufig und würde, 
wenn sie nicht schon nach dem Wesen der Sache notwendig und zulässig wäre, als durch Gewohn- 
heitsrecht sanktioniert gelten müssen. — Als ein Mittelding zwischen General- und Spezialstell- 
vertretung erscheint die Stellvertretung, welche auf Grund des vorbez. Allerh. Erl. v. 3. XII. 
1902 und der Bekanntmachung des Staatsministeriums vom gl. Tage (RBl. S. 556) in generell 
bestimmten Staatsangelegenheiten von den einzelnen Ressortministern geübt wurde. 
3) Die offizielle Bezeichnung der hessischen Volksvertretung ist „Landstände“ oder „Stände 
des Großherzogtums“ (s. z. B. Gesetz vom 3. VI. 1911, RBl. S. 87), jedoch wird die Ber- 
sammlung der Stände als „Landtag“ bezeichnet (s. z. B. die Uberschrift der Drucksachen 
des „34. Landtags“ und den regelmäßigen Etatsposten „Kosten des Landtags“, sowie H. 
Art. 75, 84, 85, 91, 101). Vgl. auch L V. II 1908/11, Drucks. 175 bezüglich der von der II. Kammer 
gewünschten Ersetzung des Ausdrucks „Landstände" durch „Landtag“. 
4) Vgl. hierher insbesondere Anschütz, StR., S. 578 ff. u. Meyer-Anschütz S. 296 ff.
	        
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