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recht durch einen Stellvertreter ausüben lassen oder für seine Abstimmung Anweisungen ent-
gegennehmen. Letzteres gilt namentlich auch für sämtliche Mitglieder der I. Kammer,
und zwar auch für den Fall der für die Häupter der standesherrlichen Familien und für den
Senior der Familie Riedesel, Freiherrn zu Eisenbach, unter bestimmten Voraussetzungen
(Minderjährigkeit, Emtmündigung, Krankheit oder sonstige Verhinderung) zugelassenen Stell-
vertretung 1).
Die wesentliche Funktion der heutigen Volksvertretung besteht in der organischen Mit-
wirkung bei der Bestimmung und bei der Erfüllung der Staatszwecke. Der Landtag ist zwar
nicht, wie der Landesherr, Träger der Staatsgewalt, aber er hat in einer großen Zahl
wichtiger Staatsangelegenheiten die Befugnis, mitzubestimmen, was die Staatsgewalt will,
und was der Träger der Staatsgewalt demnach zu tun hat.
In welchem Umfange und in welchen Formen der Landtag tätig wird, bestimmt sich
nach der positiven Vorschrift des Gesetzes. Während der Großherzog als der originäre und
präsumptive Träger sämtlicher in der Staatsgewalt enthaltenen Rechte (HV. Art. 4) alle
diejenigen staatlichen Befugnisse ausübt, welche ihm nicht ausdrücklich durch Gesetz entzogen
sind, besitzen die Stände keinerlei präsumptive Zuständigkeit und sind nur befugt, sich mit
denjenigen Gegenständen zu beschäftigen, welche durch die Verfassung ausdrücklich zu ihrem
Wirkungskreis verwiesen sind (HV. Art. 66). Die Überschreitung dieser Befugnis gilt nicht
nur als Verletzung des von den Volksvertretern geleisteten Verfassungseides, sondern sie wird
von der Verfassungsurkunde ebenso wie die „willkürliche Vereinigung der Stände“ ausdrücklich
als „gesetzwidrig und strafbar“ bezeichnet (vgl. HV. Art. 66 Abs. 2 u. 63 Abs. 2; Polizeistraf-
gesetz vom 30. Oktober 1855, Art. 78 Satz 2) 2). — Diese Bestimmungen bilden das natürliche
Korrelat zu dem oben geschilderten, die Zuständigkeit des Großherzogs bestimmenden monar-
chischen Prinzip. Eine weitere konsequente Ergänzung finden sie in dem wichtigen Ver-
fassungsgrundsatz, daß die Befugnis, die Ständeversammlung zu. berufen, zu vertagen, auf-
zulösen und zu schließen, ausschließlich dem Großherzoge zusteht (Art. 63) 3).
Die Form, in der sich der Landtag bei der Durchführung der Staatsaufgaben betätigt,
ist einzig und allein die der kollegialen Beschlußfassung und der Mitteilung
der gefaßten Beschlüsse an die Regierung; dagegen ist er niemals befugt, das Beschlossene
selbsthandelnd auszuführen.
§+# 21. Gliederung und gegenseitiges Verhältnis der beiden Kammern. I. Die
hessische Volksvertretung ist nach Maßgabe des in den größeren und mittleren deutschen Staaten
bestehenden Zweikammersystems in eine „Erste Kammer"“ und in eine „Zweite Kammer“ ge-
gliedert. Trotz dieser Zweiteilung bilden die beiden Kammern staatsrechtlich nur ein einziges
einheitliches Organ des Staates; dies kommt darin zum Ausdrucke, daß ) — von einigen
wenigen Ausnahmen abgesehen — nur der übereinstimmenden Beschlußfassung beider Kolle-
gien die Bedeutung einer staatsrechtlich wirksamen Willenserklärung — eines „Landtags-
beschlusses“ — zukommt (vgl. Art. 75 I H, Geschäftsordnungsgesetz Art. 51, ferner HV.
Art. 79 u. 97) 6).
Die beiden Kammern beraten und beschließen — von den besonders ausgenommenen
Fällen abgesehen — getrennt, teilen sich jedoch ihre gefaßten Beschlüsse gegenseitig mit (HV.
1) Siehe LstG. Art. 66.
2) Bgl. van Calker S. 74. — Die einzige Strafbestimmung, die hier bisher in Betracht
gezogen werden konnte, war die des Art. 78, Abs. 2 Poliz Str G.: „Hat die Polizeiverwaltungs-
ehörde eine bevorstehende Volksversammlung untersagt, so verfallen diejenigen, welchen dieses
Verbot bekannt ist, und welche gleichwohl an der Volksversammlung teilnehmen oder andere
zur Teilnahme auffordern, in eine Geldstrafe von 1 bis 20 fl.“ Diese Strafvorschrift ist durch
*s# des Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 beseitigt worden. Im übrigen finden auf
etwaige, nicht ordnungsmäßig berufene Versammlungen der Ständemitglieder die Vorschriften
des Reichsvereinsgesetzes Anwendung.
3) Ausnahmsweise findet die Berufung durch das Ministerium statt. S. Regentschaftsgesetz
v. 26. März 1902 Art. 1 und 9.
4) Eine Ausnahme ergibt sich aus HV. Art. 82; s. auch Art. 67 und 75 II.
5) Die beiden Kammern sind daher stets gleichzeitig zu berufen (Art. 88).