Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

44 Die Organisation des Staates. Die Volksvertretung. 8 22 
  
Art. 95; Gesch OG. Art. 49). Im übrigen findet eine Kommunikation beider Kammern be- 
züglich der ihrer beiderseitigen Beratung unterliegenden Gegenstände nur durch die ent- 
sprechenden Ausschüsse statt (HV. Art. 95; Gesch OG. Art. 20). 
Ein besonderes Verfahren ist gemäß Art. 75 HV. für folgenden Fall vorgesehen: Wird 
ein Gesetzesvorschlag auch nur von einer Kammer abgelehnt, so kommt ein Gesetz selbstverständ- 
lich nicht zustande. Wird nun aber ein solches Gesetz auf dem nächsten Landtage von der 
Regierung den Ständen wieder vorgelegt und dann wiederum von der einen Kammer ab- 
gelehnt, von der anderen aber angenommen, so ist auf Verlangen der Regierung in einer Ver- 
sammlung der beiden Kammern unter dem Vorsitz des Präsidenten der Ersten Kammer ermneut 
über den Gesetzesvorschlag zu verhandeln und abzustimmen. Bezüglich der näheren Modali- 
täten der Beschlußfassung siehe unten § 64. Ein ähnliches Verfahren greift Platz für den 
Fall der Verwerfung des Finanzgesetzes durch die erste Kammerz auch hier findet eine gemein- 
schaftliche Versammlung, Beratung und Beschlußfassung beider Kammern unter dem Vorsitze 
des Präsidenten der ersten Kammer statt; bei der Abstimmung entscheidet absolute Stimmen- 
mehrheit; bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Präsidenten der zweiten Kammer den 
AusschlageHV. Art. 67 u. unten 581). Die gemeinschaftliche Beschlußfassung der vereinigten beiden 
Kammern bildet endlich die ausnahmslose Regel für alle Beschlüsse der Stände in den durch 
das Regentschaftsgesetz von 26. März 1902 vorgesehenen Fällen — hier bilden die beiden 
Kammern also stets, nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich ein einheitliches Organ. 
II. Die Rechte der beiden Kammern sind, von einer sehr wesentlichen Abweichung zu 
ungunsten der ersten Kammer abgesehen, grundsätzlich gleich. Die erwähnte, in ähnlicher 
Weise ursprünglich in den meisten europäischen Verfassungsurkunden 1) sich findende Ab- 
weichung besteht darin, daß der Entwurf des Finanzgesetzes im Gegensatz zu sonstigen Re- 
gierungspropositionen nicht beliebig bei der ersten oder der zweiten Kammer, sondern stets 
bei der zweiten Kammer einzubringen ist, und daß die erste Kammer nach erfolglosem Ablauf 
des in Art. 67 HV. vorgesehenen Rekommunikationsverfahrens das den Beschlüssen der zweiten 
Kammer entsprechende Finanzgesetz lediglich im ganzen annehmen oder verwerfen, nicht aber 
im einzelnen amendieren kann (Art. 89, 67 Abs. 3) 5. 
§ 22. Die Zusammensetzung der Ersten Kammer. I. Die Erste Kammer, deren 
Zusammensetzung trotz mehrfacher Wandlungen auch heute noch stark durch altlandständische 
Erinnerungen beeinflußt ist, besteht aus zehn Mitgliedergruppen, deren Mitgliedschaft sich 
teils auf Geburt, teils auf das Innehaben eines bestimmten Amtes, teils auf Geburtsstand 
und Wahl, teils auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten bürgerlichen Berufsstand, teils 
auf Berufung durch den Landesherrn gründet. Die einzelnen Gruppen sind folgende ?#: 
1. Die Prinzen des Großherzoglichen Hauses"). Voraussetzung für den Eintritt in 
die Kammer ist Besitz der hessischen Staatsangehörigkeit und Zurücklegung des 25. Lebens- 
jahrs. Wohnsitz in Hessen ist nicht erforderlich. 
2. Die Häupter der standesherrlichen Familien des Großherzogtums, die sich im Besitze 
einer oder mehrerer Standesherrschaften befinden 5). Für den Fall, daß nach dem Aussterben 
einer standesherrlichen Familie deren Besitzungen mit den Besitzungen einer in der I. Kammer 
bereits vertretenen standesherrlichen Familie verbunden werden, beruft der Großherzog auf 
  
1) Vgl. hierüber Richard Schmidt, Die Bedeutung der bad. Verfassungsnovelle 
v. Jahre 1903 für das deutsche Staatsrecht, D. JZ. 1904 S. 225 ff. 
2) Vgl. van Calker S. 76. — Die Bevorzugung der zweiten Kammer gegenüber der 
ersten ist eine häufig vorkommende Konsequenz der Montesquieuschen Lehre, daß dem Bürger- 
und Bauernstand ein Ubergewicht gegenüber den in dem Oberhause vertretenen ständischen 
Elementen zukommen solle (val. Rehm, Asto. S. 281). Im übrigen #1. unten # 81. 
3) Siehe Gesetz, die Landstände betreffend, vom 3. VI. 1911 (RBl. S. 87), Art. 1, 2, 5, 
6, 7, 8, 10, 11. 
4) über den Begriff des Großherzoglichen Hauses s. oben S. 22. 
5) Das Gesetz, die Rechtsverhältnisse der Standesherrn betreffend, vom 18. Juli 1858 
(RBl. S. 329) Art. 15 bezeichnet sie als „die vordersten geborenen Stimmführer auf dem Land- 
tage“ nach den Prinzen des Großherzoglichen Hauses.
	        
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