5*24 Die organischen Zuständigkeiten der Kammern. 55
für den Fall wichtig, daß sich jemand in irgendeiner Angelegenheit bei den Staatsbehörden
beschwert hat, ohne überhaupt eine Antwort bekommen zu haben, wofür unter Umständen
der positive Nachweis schwer zu erbringen ist. Die Stände konnten sich vor dem Gesetze von
1848 mit einem derartigen Falle überhaupt nicht materiell befassen, während es heute ihrem
pflichtgemäßen Ermessen anheimgegeben ist, ob sie in eine materielle Prüfung der ihnen vor-
liegenden Petition eintreten und was sie weiter in der Sache beschließen wollen. Dabei ist
es allerdings im Interesse der Geschäftsordnung des Landtags und auch im Interesse der
Staatsbehörden dringend wünschenswert, daß die Stände von sich aus an dem Grund-
satze festhalten, in der Regel auf verfrühte Beschwerden vorerst gar nicht einzugehen und sich
nur in seltenen Ausnahmefällen mit deren Prüfung zu befassen 1).
Kommt der Landtag zu der Uberzeugung, daß das Ergebnis der von ihm vorgenommenen
Prüfung einer Petition ein weiteres Tätigwerden der staatlichen Behörden erfordere, so wird
er die Petition unter näherer Formulierung seiner Wünsche an die Regierung bzw. an den
Landesherrn überweisen; nach der Verfassung kann dies auch in der Form einer Beschwerde
geschehen 2). Die Regierung bzw. der Landesherr hat gegenüber der Beschwerde oder dem
sonstwie gefaßten Beschlusse der Stände rechtlich vollständig freie Hand: Die Möglichkeiten
liegen auf der Linie von der völligen Nichtbeachtung des ständischen Beschlusses 3) bis zur Er-
hebung der Ministeranklage durch den Großherzog, bzw. zum Rücktritt oder zur Entlassung
des Ministeriums.
Als Besonderheit des ständischen Beschwerde= und Petitionsrechts ist noch hervorzuheben,
daß, wenn eine Kammer der anderen in Hinsicht auf eine Petition oder Beschwerdeführung
nicht beistimmen sollte, jener gleichwohl die Befugnis zusteht, „die Höchste Regierung" (d. h.
den Großherzog) von ihrem einseitigen Beschlusse in entsprechender Weise in Kenntnis zu
setzen (HOV. Art. 82). Hierin liegt eine wesentliche Abweichung von dem sonst festgehaltenen
Grundsatze, daß nur den übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüssen beider Kammern die
Bedeutung eines staatsrechtlich relevanten Willensaktes des Landtags zukommt ).
2. Informationsrecht (Interpellationsrecht)5). Die Verfassungs-
urkunde hat ein Interpellationsrecht, d. h. ein Recht der einzelnen Ständemitglieder, über
irgendwelche Staatsangelegenheiten Anfragen an die Regierung zu richten, nicht ausdrücklich
statuiert; gleichwohl ist eine derartige Befugnis der Stände zweifellos als zu Recht bestehend
anerkannt. Das Bestehen eines Interpellationsrechts ergibt sich vor allem als eine logische
Folgerung aus dem Bestehen des unter Ziff. 1 behandelten Beschwerderechts, dem gegenüber
es zweifellos als das Minus erscheint; seine tatsächliche Anerkennung erhellt aber auch aus
Art. 22 des Geschäftsordnungsgesetzes v. 1874, der das Interpellationsrecht als eine bestehende
1) Bgl. van Calker, Petitionsrecht, a. O. S. 404 f.
2) Gelegentlich der Diskussion über das Wc isnbahliten. s8geset bemerkte der Abg.
Frhr. v. Gagern zutreffend, daß die Waffen der Kammern gegen das Ministerium von viererlei
Art seien: „Erstens der bloße üble Humor, dem ein Mmhreium selten lang zu widerstehen
pflege; zweitens Widerspruch und Zank, der entweder zur Beilegung oder zu anderen Folgen
kunehre. drittens, Beschwerde bei dem Fürsten über die Amtsführung, viertens die solenne An-
klage über schwere und bestimmte Vergehungen.“. . VW. II 1821 B. 3 Prot. 114 S. 57.
3) Bgl. hierzu LV. 1 1820/21 Beil. 72 S. 84 f.
4) Bezüglich des Verfahrens bei derartigen einseitigen Beschlüssen bgl. L B. II 1820, H. 14
S. 162; H. 16 S. 1, Beil. 263 (Bericht Schenk); H. 17 S. 101 u. 156.
5) Wesen und Bedeutung des Interpellationsrechts weisen in den verschiedenen Staaten
goße Verschiedenheiten auf. Als der regelmäßige Zweck der einschlägigen parlamentarischen
efugnisse ist jedenfalls einerseits die Information der Parlamentsmitglieder, anderer-
seits die Kontrolle der Staatsverwaltung durch das Parlament zu bezeichnen.
Vgl. über die einschlägigen Fragen Anschütz, Staatsrecht S. 5854 Hatschek, Das Inter-
pellationsrecht im Rahmen der modernen Ministerverantwortlichkeit, Leipzig 1909, und besonders
Rosegger, Das parlamentarische Interpellationsrecht, Leipzig 1907. — Die heutige Rege-
lung des Interpellationsrechts der hessischen Landstände entstammt im wesentlichen den Art. 25,
26 des Geschäftsordnungsgesetzes vom 10. X. 1849. Für diese Bestimmungen aber waren in der
Hauptsache die Vorschläge der deutschen Nationalversammlung vom 28. VII. 1849 „über die Art
und Weise, wie Interpellationen in der Reichsversammlung an den Reichsminister zu richten
sind“ als Vorbild maßgebend. (Vgl. L V. II 1847/49 Beil. 649 S. 8; s. auch L V. II 1851/65
BeilB. 14 Nr. 883 S. 2.)