Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

56 Die Organisation des Staates. Die Volksvertretung. *25 
Einrichtung behandelt und ausführlich regelt. Anfragen (Interpellationen) einzelner Kammer- 
mitglieder an die Minister sind hiernach dem Präsidenten der Kammer schriftlich zu übergeben, 
von diesem der Kammer zu eröffnen und dem Minister abschriftlich mitzuteilen. Eine 
Antwortpflicht des Ministers besteht nun nur insofern, als dieser hierauf in einer der nächsten 
Sitzungen oder an einem im voraus bestimmten Tage entweder mündlich oder schriftlich Ant- 
wort zu geben oder aber anzuzeigen hat, daß überhaupt eine Beantwortung nicht erfolgen 
könne. Ein völliges Ignorieren einer Interpellation ist unzulässig. An die Beantwortung 
oder Ablehnung der Interpellation darf sich auf Antrag von mindestens zehn Kammermit- 
gliedern eine sofortige Besprechung des Interpellationsgegenstandes anschließen. Die Stellung 
eines Antrags bei dieser Besprechung ist unstatthaft — demnach ist es auch nicht angängig, 
aus Anlaß der Interpellation irgendwelchen Beschluß zu fassen. Indessen bleibt es jedem 
Kammermitgliede überlassen, den Gegenstand in Form eines Antrags weiter zu verfolgen 
(GO. Art. 22). Ein solcher Antrag wäre schriftlich mit kurzer Anführung des Gegenstandes 
zu übergeben und könnte, im Falle der Ablehnung von seiten einer der beiden Kammern, 
auf demselben Landtage nicht mehr wiederholt werden (GO. Art. 20, 21). 
3. Befugnis der Kammern zur Regelung ihrer eigenen An- 
gelegenheiten. Die sogenannte parlamentarische „Autonomie“ 1) der hessischen Land- 
stände bewegt sich in sehr engen Grenzen, da die Geschäftsordnung für beide Kammern durch 
Landesgesetz geregelt ist. Im wesentlichen beschränken sich die einschlägigen Befugnisse auf 
Folgendes: a) die Handhabung der Disziplin 2) und Ordnung des Hauses (GO. Art. 15, 16, 
41 ff.); b) die Wahl der beiden Landtagsbureaus, d. i. der Präsidenten und Sekretäre, vor- 
behaltlich der vom Großherzog zu vollziehenden Ernennung des ersten Präsidenten der Ersten 
Kammer (GO. Art. 2, 4, 6, 9, 10) #); c) die jeder Kammer zustehende Entscheidung über 
die Gültigkeit der Wahlen und über die Zulassung, Abweisung oder Befreiung der Mitglieder 
der Kammern (HV. Art. 87; GOG. Art. 7, 8; LstG. Art. 58, 60). 
§ 25. Die individuellen Rechte der Ständemitglieder. Im Interesse einer 
gedeihlichen Durchführung der dem Landtage anvertrauten Staatsaufgaben gelten bezüglich 
der rechtlichen Stellung der Ständemitglieder folgende besondere Rechtsgrundsätze: 
I. Jedes Kammermitglied hat das Recht und die beschworene Pflicht, sich bei der Er- 
füllung der Aufgaben seines parlamentarischen Berufs ausschließlich von seiner eigenen 
freien Überzeugung leiten zu lassen ). Zur Wahrung dieses Grundsatzes dient: 
1. Die rechtliche Unabhängigkeit der Ständemitglieder gegenüber irgendwelchen Auf- 
trägen, welche etwa Wähler, dienstliche Vorgesetzte, Parteien, Korporationen oder irgend- 
welche andere Personen im Widerspruche mit vorstehendem Grundsatze und entgegen dem 
Interesse des „allgemeinen Wohls“ jenen erteilen sollten (HV. Art. 88, LstG. Art. 65); 
2. die reichsrechtlich statuierte strafrechtliche Unverantwortlichkeit 
jedes Kammermit #tedes „wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines 
Berufs getanen Außerung" (RStGB. § 11) und die noch weiter gehende, jedes Zur- 
verantwortungziehen ausschließende landesrechtliche Unverantwortlichkeit nach HV. Art. 83, 
welche neben der reichsrechtlichen, auf kriminelle Delikte beschränkten Unverantwortlichkeit 
noch fortbesteht und speziell für das Gebiet des Disziplinarrechts bedeutsam ist 5). 
  
1) Anschütz, Staatsrecht S. 584, weist mit Recht auf die unzutreffende Verwendung des 
Ausdruckes Autonomie hin, welcher begrifflich das Vorhandensein einer Korporation, nicht bloß 
eines Kollegiums voraussetzt. — Vgl. auch im allgemeinen Kurt Perels, Autonom. Reichs- 
tagsrecht, Berlin 1903. 
2) Namentlich: Ruf zur Sache, Ordnungeruf, Wortentziehung, Sitzungsunterbrechung 
oder Schluß. 
3) Siehe hierüber unten 59. 
4) HV. Art. 88 u. WG. Art. 49 bezw. LstG. Art. 65 Abs. 1; die letztere Bestimmung, 
der ausdrücklich die Geltung eines Verfafsungsgesebes zukommt, ersetzt inhaltlich den formell 
nicht aufgehobenen Art. 61 Abs. 1 HB. 
5) Vgl. van Calker, VG. 86, Glockner Bad. Verf. S. 117. — Eine Diszi- 
plinierung im Staatsdienst stehender Aobgeordneter wegen ihres Verhaltens im Parlament 
wäre demnach in Hessen verfassungswidrig.
	        
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