25 Die individuellen Rechte der Ständemitglieder. 57
II. Die Ständemitglieder genießen im Interesse der ungestörten Ausübung ihrer par-
lamentarischen Funktionen einen besonderen Strafrechtsschutz (RStGB. s 105, 106).
III. Auch hinsichtlich solcher Handlungen der Kammermitglieder, welche nicht in ur-
sächlichem Zusammenhange mit ihrer parlamentarischen Tätigkeit stehen, ist deren gericht-
liche Verfolgbarkeit gewissen Beschränkungen unterworfen:
Der weitgehende Grundsatz des Art. 84 HV., wonach während der Dauer des Landtags
jede Art von Arrest, abgesehen von dem Falle der Ergreifung auf frischer Tat bei strafbaren
Handlungen, gegenüber Landtagsmitgliedern ohne Einwilligung der betreffenden Kammer
unzulässig ist, hat allerdings durch die Reichsgesetzgebung eine wesentliche Modifikation er-
fahren 1). Art. 84 kann angesichts des § 6 des Einführungsgesetzes zur Strafprozeßordnung
und nach feststehender konstitutioneller Praxis, keine Anwendung mehr finden auf Verhaf-
tungen, welche dem Zwecke der Strafvollstreckung dienen (sogenannte „Strafhaft").
Denn durch die 88 481—495 St PO. ist die ganze Strafvollstreckung erschöpfend geregelt und
sind namentlich auch die Fälle, in welchen die Vollstreckung aufgeschoben werden muß, ab-
schließend festgestellt, ohne daß die landesrechtlichen Vorschriften bezüglich des Ausschlusses
der Strafvollstreckung gegen Landtagsmitglieder aufrecht erhalten worden wären 2).
Im einzelnen genießen die Kammermitglieder hiernach in prozessualer Beziehung
folgende Vorrechte:
1. Die Verhängung oder Fortsetzung einer zivilprozessualen Haft ist während
der Dauer der Sitzungsperiode ohne oder gegen den Willen der betreffenden Kammer gegen-
über Landtagsmitgliedern unzulässig (Z PO. 88 904, 905).
2. Jede „Art von Arrest“ — also namentlich Untersuchungshaft, und polizeiliche Fest-
nahme, „ausgenommen den Fall der Ergreifung auf frischer Tat bei strafbaren Handlungen
und ausgenommen die Freiheitsentziehung zum Zwecke des Strafvollzugs (die sogenannte
„Strafhaft“, siehe oben) ist „während der Dauer des Landtags" 3) ohne Einwilligung der
Kammer gegenüber Landtagsmitgliedern unzulässig. Bei der Ergreifung auf frischer Tat
ist der Kammer, zu welcher der Verhaftete gehört, alsbald „mit Entwickelung der Gründe“
Anzeige über den Vorfall zu erstatten (EG. z. St PO. &§6,), HV. Art. 84).
1) Die Auslegung und eventuelle gesetzgeberische Umgestaltung des Art. 84 hat die Regierung
und die beiden Kammern sowie die Gerichte wiederholt, bes. auch in den Jahren 1887—1889,
beschäftigt. Die zwei Hauptstreitpunkte waren einerseits die von der Regierung verneinte Frage,
ob die Immunität auch während der Zeit einer vom Großherzog verfügten Vertagung der
Stände fortdauere, und andererseits die von der Regierung verneinte Frage, ob die Immunität
sich auch auf Freiheitsentziehungen zum Zwecke des Strafvollzugs beziehe. Eine förmliche
Austragung der zwischen Regierung und Landtag bestehenden Differenzen ist nicht erfolgt, jedoch
läßt der Verlauf der Verhandlungen den Schluß zu, daß in der erstbezeichneten Frage die Ansicht
des Landtags, in der letztgenannten Frage dagegen die Meinung der Regierung gesiegt hat.
(Vgl. die eingehende Darstellung v. Zeller i. Archiv f. öff. R. XI S. 420—“44, sowie die
kürzere bei Küchler (Braun u. Weber!] I S. 127—134). Der sich hieraus ergebende tat-
sächliche Zustand entspricht nach Ansicht des Verfassers der gegenwärtigen im Text kurz ent-
wickelten Rechtslage. (Gl. Meinung bezügl. der zweiten Frage Cosack S. 24 u. Oberlandesger.
Darmstadt, Urt. v. 17. I. 1888, abgedr. Küchler a. a. O. S. 133 f.; sowie Zeller a. a. O.
S. 438; vgl. auch Meyer-Anschütz S. 340 und die dortigen Literaturangaben; a. M.
Abg. Metz (Gießen) u. a., LV. II 1892, Prot. B. 3 Nr. 33 S. 62). Vgl. endlich Gareis
i. 9. f. ges. St. R.W., VII. 633. — Die Einleitung und Fortführnug einer Untersuchung ist,
abweichend von den Grundsätzen der R V., in Hessen zulässig.
2) Siehe bes. die Ausführung des Abg. Weber LV. II 1888/91 Prot. B. 3 Nr. 30 S. 22 ff.
und des Abg. Gutfleisch LV. II 1891/94 Prot. B. 3 Nr. 33 S. 45 ff.
3) Die Dauer einer Vertagung ist hier einzuschließen. Dies ergibt sich, wenn wir von dem
ausdrücklichen Zugeständnis der Regierung v. 26. XI. 1888 L V. II1 1888, Beil B. II Nr. 133 S. 3 f.,
Küchler (Braun u. Weber) I S. 130 f., absehen, vor allem aus der Tatsache, daß der
Ausdruck „Dauer des Landtags“ in Art. 84 selbstverständlich nicht anders ausgelegt werden kann
als in Art. 85; im letzteren Falle ist aber gar kein Zweifel darüber möglich, daß die Dauer der
Vertagung in der Dauer des Landtags miteinbegriffen ist.
4) Hiernach bleiben die landesgesetzlichen Bestimmungen über die Voraussetzungen, unter
welchen gegen Mitglieder einer gesetzgebenden Versammlung während der Dauer einer Sitzungs-
periode eine Strafverfolgung eingeleitet oder fortgesetzt werden kann, vom Reichsrecht unberührt.