g 32 Wesen, Träger und Gegenstand der Ministerverantwortlichkeit. 69
Disziplinarbehörden geltend zu machenden allgemeinen zivil-, straf- und
disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit, welche der Minister nicht anders als jeder andere
staatliche Untertan und Beamte zu tragen hat ½).
Die Ministerverantwortlichkeit in diesem Sinne (mißverständlich auch als „politische"
bezeichnet) 2) findet ihren Rechtsgrund in der besonderen Stellung des Ministers im kon-
stitutionellen Staat, hat ausschließlich staatsrechtlichen Charakter und besteht demnach un-
beschadet der Reichsjustizgesetzgebung auch heute noch zu Recht 5).
II. Das Wesen der Ministerverantwortlichkeit als einer beson-
deren, von zivil-, straf= und disziplinarrechtlicher Inanspruchnahme verschiedenen Art der
Verantwortlichkeit äußert sich namentlich in Folgendem:
1. Träger der Ministerverantwortlichkeit sind nach M. Art. 1
nur „die Minister, das Ministerium und alle jetzige oder künftige höchste Administrativstellen“,
oder, kürzer ausgedrückt, „die Minister und obersten Staatsbeamten“ (so die Uberschrift des
Gesetzes vom 5. Juli 1820). Die Genannten bilden nach konstitutionellem Staatsrecht „die
oberste Staatsbehörde“, die „Zentralbehörde“ oder die „Zentralbehörden“ des Staats, in
welchen alle die öffentliche Verwaltung betreffenden Gegenstände vereinigt erscheinen, und
die als einzige unmittelbare, verfassungsmäßige Organe des
Willens der Krone diesen Willen den untergeordneten Staatsbehörden zu vermitteln
und für dessen Vollzug unter eigener Verantwortlichkeit zu sorgen haben #). Welche Stellen
und welche Beamtenkategorien innerhalb der vom MVG. gezogenen allgemeinen Grenzen
in concreto als Träger der Ministerverantwortlichkeit in Betracht kommen können, bestimmt
sich nach der jeweiligen Organisation der obersten Staatsbehörden; diese ist im wesentlichen
dafür bestimmend, in welcher Art und Weise die verschiedenen durch das Gesetz im allgemeinen
1) Vgl. Anschütz, StR., S. 568 f.; bezüglich der allgemeinen Beamtenverantwortlich-
keit s. unten # 45.
2) Vgl. Meyer-Anschütz S. 683.
3) Bgl. Esselborn, Annalen des Deutschen Reichs, 1906, S. 548—554, durch dessen
eingehende Ausführungen die Behauptung Passows, in „das Wesen der Ministerverant-
wortlichkeit in Deutschland“, Tübg. 1904, daß die Ministerverantwortlichkeit in Hessen rein
strafrechtlichen Charakters und daher seit dem 1. Okt. 1879 nicht mehr realisierbar sei, überzeugend
widerlegt wird. Vgll. auch Esselborn, Diss. S. 8 ff., und die dortigen Literaturangaben,
sowie die beweiskräftigen Ausführungen bei Geßner, Diss. S. 35, 36. — Nach Cosack
S. 50, 51, der der Ministerverantwortlichkeit allerdings nur wenige Sätze widmet, und sich mit
der Besonderheit der Ministeranklage gegenüber der Verfolgung von Beamten wegen kriminell
strafbarer Handlungen und wegen schwerer Disziplinarvergehen überhaupt nicht befaßt, be-
zwecken die einschlägigen Gesetze — als solche werden von ihm die Gesetze v. 5. Juli 1821,
v. 8. Januar 1824, und das Zivilstaatsdieneredikt vom 12. April 1820 angeführt — „nicht bloß
ein kriminelles, sondern auch ein disziplinares Vorgehen“ und sind nun, was den ersteren Zweck
betrifft, insoweit aufgehoben, als sie von der Reichsstrafprozeßordnung abweichen. Namentlich
erklärt Cosack für aufgehoben „das Recht des Großherzogs, die Minister in Anklagestand zu
versetzen, und die Zuständigkeit des höchsten hessischen Gerichtshofs als Strafgericht“, dagegen
dauert nach seiner Ansicht das Recht der Kammern, „durch übereinstimmenden Beschluß vom
Großherzog die Strafverfolgung gegen Minister zu verlangen“, fort, „weil dieses Recht in keiner
Weise der Strafprozeßordnung widerspricht“. Hiernach bleibt von der Ministerverantwortlichkeit
allerdings kaum mehr etwas übrig. Gegenüber dieser auf der strafrechtlichen Auffassung
der Ministerverantwortlichkeit beruhenden Anschauung verweise ich im allgemeinen auf v. Frisch
a. a. O. S. 168 ff. und für das hessische Recht im besonderen namentlich auf Esselborn,
Diss. S. 113f., ferner auf die vorerwähnte Abhandlung Esselborns in Annalen 1906 S. 550 ff.
und auf meine obigen Ausführungen. Was die Auffassung des Ministeranklageverfahrens als
eines Disziplinar verfahrens anlangt, so ist diese Anschauung m. E. unvereinbar mit der
Rechtstatsache, daß es sich bei der Inanspruchnahme der Ministerverantwortlichkeit regelmäßig
nicht um das innere Verhältnis zwischen Minister und Krone (z. B. Ungehorsam gegenüber
dienstlichen Befehlen des Landesherrn), sondern um das Verhältnis zwischen dem Minister und
der Volksvertretung handelt, welches im monarchischen Staate nicht als ein Dienstverhältnis an-
gesehen werden kann. — Richtig schildert das Wesen der Disziplinarstrafe v. Liszt, Lehrbuch
d. Deutschen Strafrechts, 18. Aufl., Berlin 1911, § 58, indem er die staatliche Disziplinarstrafe
als diejenige Strafe bezeichnet, die vom Staate nicht als Inhaber der öffentlichen
Zwangsgewalt, sondern kraft seiner dienstherrlichen Stellung, im Interesse des inneren
Dienstes, verhängt wird. Vgl. auch unten S. 76.
4) Vgl. LV. II 1821 Beil. 268 (zweiter Ausschußbericht Floret) S. 23 ff.