70 Die Organisation des Staates. Die Staatsbehörden. g 32
bezeichneten Personen (z. B. die mehreren Mitglieder eines Ministeriums) sich in die Ver-
antwortlichkeit zu teilen haben 1). Begrifflich ausgeschlossen ist es, daß umnteergeordnete
Behörden als Träger der spezifischen Ministerverantwortlichkeit in Anspruch genommen werden.
Dies ist selbst dann unmöglich, wenn eine solche Behörde etwa in einem Einzelfall unzulässiger-
weise auf unmittelbaren Befehl des Landesherrn tätig geworden sein sollte; denn dadurch
allein, daß eine untergeordnete Staatsbehörde auf unmittelbaren Befehl des Landesherrn
handelt, kann sie selbstverständlich nicht für den konkreten Fall zu einer unmittelbaren, d. h.
obersten, selbständig verantwortlichen Staatsbehörde werden 2).
Nach Art. 109 HV. sind allerdings nicht nur „die Großherzoglichen Staatsminister“,
sondern „sämtliche übrigen Staatsdiener . insofern sie nicht von Befehlen ihrer vorgesetzten
Behörden handeln, jeder innerhalb seines Wirkungskreises für die genaue Beobachtung der
Verfassung verantwortlich". Diese allgemeine Staatsdienerverantwortlichkeit ist aber nicht
identisch mit der spezifischen Ministerverantwortlichkeit: Einerseis besteht sie, im Gegensatz
zu dieser, nicht speziell gegenüber den Ständen, sondern gegenüber jedem,
der sich durch die unterlassene Beobachtung der Verfassung in seinen Rechten gekränkt findet 3);
andrerseits bezieht sie sich, anders wie diese, ausschließlich auf die Beobachtung der Ver-
fassung. Wenn also neben der zivilrechtlichen, strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen
Verantwortlichkeit der Beamten noch von einer besonderen verfassungsrechtlichen Verant-
wortlichkeit aller Staatsdiener gesprochen wird, so kann dies nur in dem in Anm. 2) erörterten
Sinne geschehen "). Hieran wird auch dadurch nichts geändert, daß die Geltendmachung
dieser Verantwortung zufolge Art. 79, 80 HV. unter Umständen in der Form eines gemein-
schaftlichen Wunsches oder einer gemeinschaftlichen Beschwerde durch die Stände erfolgen
kann 5). Denn eine solche Beschwerde der Stände geht nicht etwa an das Oberlandesgericht
1) Siehe VO. v. 15. III. 1879 i. d. F. v. 1. VIII. 1896, u. VO. v. 28. V. 1821; vgl. hierüber
oben S. 66. Unter Umständen werden bei Kollegialbeschlüssen alle mitwirkenden Kollegialmit-
Hieder= nicht etwa nur der kontrafignierende Referent, verantwortlich sein. (Vgl. L V. 1 1820/21,
eil. 13, Ausschußbericht Arens S. 50 f.) Andererseits hört die Verantwortlichkeit von Mit-
gledern des Ministeriums, sobald sie als Kommissare der Regierung auftreten, auf, da sie in
ieser Eigenschaft von Befehlen und Instruktionen abhängen, für die der vorgesetzte Minister
die Verantwortung zu tragen hat (vgl. LV. 1 1820/21, Beil. 19 S. 84 [Frhr. du Thill.) Vgl.
auch LV. 1 1820/21 Beil. 99 S. 92 (Dr. Arens). — Ins einzelne gehende Bestimmungen über
Kontrasignatur, Stellvertretung und Verantwortlichkeit enthalten die Abs. VII u. VIII der
vorbez. V O. v. 28. V. 1821. Da diese Vorschriften durch die neueren Organisationsverordnungen
weder abgeändert noch ersetzt wurden, steht ihrer fortdauernden Anwendung nichts entgegen;
sie sind jedoch nicht entscheidend für die Beurteilung der Verantwortlichkeit, da diese von der
Kontrasignatur überhaupt unabhängig ist; vgl. oben S. 29 ff.
2) Der Landesherr ist nicht befugt, den unteren Behörden unmittelbare Befehle
zu erteilen, und jene sind nicht berechtigt, Befehle von ihm anzunehmen (vgl. L V. 1 1820 Beil. 15
IA. M. Staatsm. Frhr. du Thill, ferner Beil. 18·Arens] u. LV. I1 1821 B. 2 Beil. 268 S. 26. ff.
Ausschußbericht Floret). — Wenn eine untere Behörde sich ohne Vorwissen ihrer oberen einer
Verfassungswidrigkeit schuldig macht, so ist sie alsdann von den obersten Staatsbehörden zur
Ordnung zurückzuführen. „Diese können aber die Sache übersehen haben, d. h. sie kann ihnen
unbekannt geblieben sein, und es ist daher, wie auch schon das Verfassungsedikt erwähnt, eine
Anklage der Stände gegen diese Unterbehörden gedenkbar; aber diese gehört nicht
vor das Oberappellationsgericht als Staatsgerichtshof, sondern
die oberen Staatsbehörden haben auf diese Anklage hin die Untersuchung zu
führen und nach Umständen selbst zu bestrafen, oder in dem gewöhnlichen Wege die Einleitung
zur Bestrafung zu machen, und die Klage kann nur dann bei dem Staats-
erichtshof angebracht werden, wenn die obere Behörde das Ver-
Fahren der Unterbehörde gutheißt, die Sache also zu ihrer eigenen
macht und so selbst der beklagte Teil wird.“" (LV. 1 1820 Beil. 15 S. 59, Frhr.
du Thil.) vgl. auch L V. II 1821 Beil. 268. Ein gültiger Befehl der Vorgesetzten befreit den-
jenigen, welcher in der Befolgung des Befehls eine Pflicht übte, notwendig von eigener Ver-
antwortlichkeit, und überträgt die Verantwortlichkeit auf denjenigen, welcher den Befehl erteilt
hat (anerkannt von Minister v. Grolman, vgl. LV. 1 1820, Beil. 18 S. 73 [Arensl.)
3) Vgl. L B. II 1821 B. 2 Beil. 268 S. 31.
4) Die Bedeutung des Art. 109 wird in LV. 1 1820/21 Beil. 72 S. 81 von dem Aus-
schußberichterstatter Dr. Arens verkannt.
5) Dies wird von Esselborn, Diss. S. 94, außer acht gelassen.