Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

72 Die Organisation des Staates. Die Staatsbehörden. 832 
  
rechtlich ausgeschlossen, daß das Ministeranklageverfahren sich an die Stelle des ordentlichen 
zivilrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahrens setzt. Demnach können gesetzwidrige, zivil- 
oder strafrechtlich relevante Handlungen eines Ministers nur insoweit den Gegenstand einer 
Ministeranklage bilden, als ihre Begehung gleichzeitig den Tatbestand einer Verletzung 
staatsrechtlicher Rechtsvorschriften erfüllt. Das mit der Durchführung des Minister- 
anklageverfahrens betraute Gericht, d. i. das Oberlandesgericht Darmstadt, hat daher ge- 
gebenenfalls — selbst auf die Gefahr hin, daß Staatsgerichtshof und Strafgericht in der 
tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung des Falles zu verschiedenartigen Ergebnissen kommen 
— sein Urteil selbständig abzugeben, d. h. unabhängig von einem etwa vorausgegangenen 
strafgerichtlichen Urteil darüber zu entscheiden, ob eine Verletzung st aa###s rechtlicher Rechts- 
vorschriften vorliegt 1). 
Nach dem Gesagten darf als festgestellt erachtet werden, daß strafrechtlich relevante 
Handlungen alssolche nicht den Gegenstand eines Ministeranklageverfahrens bilden können. 
Eine weitere Präzisierung des Gegenstands der Ministeranklage ergibt sich daraus, daß 
diese sich nach dem ausgesprochenen Willen des Gesetzgebers 2) nur auf Amtshand- 
lungen beziehen kann, daß also alle von einem Minister als Privatmann, nicht in amtlicher 
Eigenschaft begangenen gesetzwidrigen Handlungen der Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs 
ohne weiteres entzogen sind. — Daß unter den Begriff „gesetzwidrige Handlungen“ auch 
gesetzwidrige „Unterlassungen“ fallen, bedarf keiner weiteren Begründung 3). 
Ebenso kann als anerkannt gelten, daß ein Minister auch für die gesetzwidrigen Hand- 
lungen der ihm untergeordneten Beamten einzustehen hat, insofern er durch Befehlserteilung, 
Duldung oder Unterlassung dienstlichen Einschreitens oder auf andere Weise sich selbst mit- 
schuldig gemacht hat ). 
Aus den hiermit gegebenen rechtlichen Anhaltspunkten ergibt sich mit annähernder 
Sicherheit die Jualitative Abgrenzung der als Gegenstand einer Ministeranklage be- 
grifflich möglichen Handlungen. Die guantitative Bestimmung des Grades der 
Aktivität bzw. Passivität, der notwendig ist, um im konkreten Falle das Verhalten eines 
Ministers als „Handlung“ im Sinne des Ministerverantwortlichkeitsgesetzes erscheinen zu 
lassen, ist nur von Fall zu Fall möglich. Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes 5) ergibt für 
die Beurteilung dieser Frage in positiver Richtung nur soviel, daß jede Mitwirkung eines 
Ministers bei einem Regierungsakte — insbesondere auch schon die bloße Zustimmung im 
Ministerkollegium — hinreichen kann, um die Verantwortlichkeit zu begründen 2). In ne- 
gativer Beziehung steht fest, daß die Ministerverantwortlichkeit sich nicht bezieht auf bloße 
Pflichtwidrigkeiten. Denn der bei der Beratung des Ministerverantwortlichkeits- 
gesetzes von der Zweiten Kammer gestellte Antrag, die Minister auch für Pflichtverletzungen 
verantwortlich zu machen, wurde bei der Beratung des Gesetzes von der Ersten Kammer aus- 
drücklich abgelehnt und daraufhin von der Zweiten Kammer fallen gelassen 7). Wenn also 
1) Welchem Gerichte die Priorität zusteht, ist im Gesetze selbst nicht gesagt, jedoch wird 
wohl als Regel angenommen werden können, daß der Staatsgerichtshof sein Urteil erst dann ab- 
geben wird, wenn das zuständige Strafgericht rechtskräftig geurteilt hat. Das rechtskräftige 
Urteil ist für den Staatsgerichtshof selbstverständlich nicht präjudiziell (vgl. hierüber die eingehen- 
den Darlegungen bei Esselborn, Diss., S. 98 ff.). 
2) Siehe LV. II 1821 H. 16 S. 23; Beil. 268 z. Prot. 139, L V. 1 1820/21 Beil. 19 (Frhr. 
du Thil) S. 84, Beil. 26 S. 108, Beil. 72 S. 79; vgl. auch Esselborn, Diss. S. 97 f. 
3) Bgl. L V. II 1820 Prot. u. Beil. B. 2, Beil. 106 S. 16 (Ausschußbericht Floret). 
4) Siehe oben S. 70. 
5) Siehe L V. 1 1820/21, H. 1 Beil. 13 S. 51, Beil. 15 S. 57, Beil. 18 S. 82; Beil. 19 
S. 85; H. 2 Beill. 72 S. 87, allegiert bei Geßner S. 29 A. 2. 
6) Daß die Gegenzeichnung zur Begründung der Verantwortlichkeit nicht erforderlich ist, 
wurde schon oben S. 29 nachgewiesen; vgl. auch L V. 1 1820 Beil. 13 S. 50 ff. (Ausschußbericht) 
Beil. 15 S. 57 (Staatsm. Frhr. du Thil), Prot. 56 S. 145 (Abstimmung); s. auch Geßner 
S. 29. 
7) Siehe bes. L V. II 1820 B. 2 Beil. 106 (erster Ausschußbericht Floret), S. 10 ff. u. L V. 
II 1821 B. 2 Beil. 268 (zweiter Ausschußbericht Floret), S. 21 ff. L V. II 1821 B. 3 Beil. 366 
(dritter Ausschußbericht Floret). Vgl. auch Esselborn, Annalen, S. 551 Anm. 3; 
Geßner S. 32. S. ferner L V. 1 1820/21 Prot. 55 S. 134, wo ausdrücklich hervorgehoben
	        
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