74 Die Organisation des Staates. Die Staatsbehörden. g 33
eine nachweisbar gesetzwidrige Handlung oder Unterlassung eines Ministers vorliegt,
sondern dies auch schon dann zu tun, wenn es sich um eine an sich gesetzlichzulässige
Unterlassung, nämlich um die Nichterfüllung einer de lege nicht erforderlichen Zusage des
Regenten an die Stände handelt. Wenn daher beispielsweise den Ständen in der Thronrede
die demnächstige Vorlage eines bestimmten Regierungsentwurfes zugesagt, dieses Versprechen
aber innerhalb der angekündigten Frist nicht eingelöst worden sein sollte, so würde hier zweifellos
keine „gesetzwidrige Handlung“ vorliegen, gleichwohl aber aus dem Gesichtspunkte der „Nicht-
erfüllung“ usw. die Inanspruchnahme der Ministerverantwortlichkeit zulässig sein.
e) Aus dem Wesen der Ministerverantwortlichkeit und aus den vorstehenden Ausführungen
ergibt es sich als selbstverständlich, daß innerhalb der unter a) und b) angegebenen Grenzen
als Gegenstand der Ministeranklage auch solche Handlungen und Unterlassungen erscheinen
können, die unmittelbar auf einen Befehl des Regenten zurückzuführen sind. Die
Bestimmung des Art. 1 M., daß die Minister „sich nie zur Entschuldigung auf angebliche
Befehle des Regenten berufen können“, hat keinerlei konstitutive Bedeutung, sondern wieder-
holt nur einen damals bereits allgemein anerkannten, im Wesen der Sache gelegenen Rechts-
grundsatz. Der Grund für die ausdrückliche Aufnahme dieses Grundsatzes in das MVG. ist
augenscheinlich der berechtigte Wunsch, von vornherein dafür Sorge zu tragen, daß im Fall
einer Ministeranklage die Person des unverantwortlichen Landesherrn nach Möglichkeit aus
dem Spiele bleibt 1).
§s 33. Erhebung und Durchführung der Ministeranklage. I. Die Anklage-
erhebung. Als „Ankläger“ im Ministeranklageverfahren erscheint nach hessischem
Recht (MV. Art. 4) im Gegensatze zu dem Rechte der meisten anderen Staaten 2) nicht der
Landtag, sondern der Landesherrz: er ist derjenige, der, sei es aus eigener Initiative
oder zufolge einer von beiden Kammern der Stände gemeinschaftlich beschlossenen und ihm
durch eine gemeinschaftliche Deputation zu überreichenden Anklage, den betreffenden Minister
„in den Anklagestand versetzt“ oder „die Versetzung in den Anklagestand beschließt“ 3). Das
MV. spricht zwar ungenau auch von einer „Anklage von seiten der Stände“ oder von
einer „von beiden Kammern der Stände beschlossenen .. Anklage“, es kann aber nach der
Entstehungsgeschichte ) und auch nach dem übrigen Wortlaute des Gesetzes kein Zweifel
darüber bestehen, daß es sich hierbei nicht um eine Anklage im strengen prozessualen Sinne,
nicht um ein förmliches „vor Gericht stellen“ handelt. Der Großherzog ist nach Art. 4 Abs. 2
MV. („werden Wir beschließen“) rechtlich verpflichtet 53), die Versetzung in den Anklage-
stand „möglichst bald“ zu beschließen, jedoch ist ihm hierfür keine bestimmte Frist gesetzt worden,
vielmehr hat er sogar die Möglichkeit, den Ständen „zuvor noch nähere Erläuterungen erteilen
zu lassen“.
Überzeugung unter die Überzeugung des Regenten zur Pflicht zu machen. — Ganz klar kommt
endlich die bewußte Gegenkherstellang von „gesetzwidrigen Handlungen“ und „ichterfallung
von Zusa agen! usw. zum Ausdruck in dem letzten Vortrage des Referenten Dr. Arens LB
1820/21 Beil. 99 S. 87 f.
1) Vgl. auch die ohn dem gleichen Bestreben getragenen Einleitungsworte zum MVG:
„Da Befehle, welche zu gesetzwidrigen Handlungen oder zur Verletzung Unserer den Ständen
gegebenen Zusagen führen könnten, nie von Unserem Willen ausgehen, sondern nur in einem
Mißverständnisse gegründet sein können, dessen Aufklärung Wir als eine Pflicht Unserer obersten
Staatsdiener und Staatsbehörden betrachten, so haben Wir. für gut befunden, Fol Hendes gesetzlich
zu verordnen.“ Vgl. hierzu ferner den Ausschußbericht der l. Kammer LV. 1 1820 Beil. 13 S. 43f.
2) Vgl. Meyer-Anschütz S. 689.
3) E 6 selborn, Diss. S. 107, sagt mißverständlicherweise: „Das Ankla. agerecht steht dem
Großherzog und den beiden Kammern gemeinschaftlich zu“; noch unklarer drückt sich Geßner
33 aus
4) Vgl. L V. II 1820 Prot. u. Beil. B. 1, Beil. 38 S. 11 (Rede des Staatsministers v. Grolman),
wo ausdrücklich auf die Aufrechterhaltung des monarchischen Prinzips bei der Erhebung der
Ministeranklage hingewiesen ist. In ähnlichem Sinne spricht sich der Ausschußbericht der I. Kammer
aus (s. LV. 1 1820 Beil. 13 S. 49 f.).
5) Diese Verpflichtung * eine wesentliche Eischränkung des landesherrlichen
Abolitionsrechts (vgl. hierüber auch LV. 1 1820 Beil. 13 S. 49 f.).