82 II. Teil. Die Grundlagen des hess. Verfassungsrechts.
Was die hessische Verfassung unter Gesetz im
materiellen Sinne versteht, ist in der Verfassungsurkunde
selbst nicht ausdrücklich ausgesprochen. Es könnte
vielleicht im Hinblick auf die ähnlich lautende Bestim—
mung des Tit. VII 82 der bayrischen Verfassungsur—
kunde und auf deren Vorbilder! daran gedacht werden,
in HV. Art. 23 eine Definition des Gesetzesbegriffes zu
sehen; die Entstehungsgeschichte dieses Artikels zeigt jedoch,
daß dieser Gedanke nicht gerechtfertigt ist. Art. 23 ist
hervorgegangen aus der gleichlautenden Bestimmung des
Art. 3 Abs. 3 des den Ständen im Jahre 1820 von
der Regierung vorgelegten Gesetzentwurfes, die Sicherung
der konstitutionellen Gesetze und Rechtsbestimmungen
betreffend, und verdankt seine Entstehung einem An-
trage des Freiherrn von Gagern, die Staatsregierung
um einen Gesetzesentwurf über Sicherheit und Freiheit
der Personen zu ersuchen.? Die über den Art. 23
gepflogenen gesetzgeberischen Verhandlungen und die
Stellung, welche dieser Artikel seinem Zwecke ent-
sprechend in der Verfassungsurkunde gefunden hat,
beweisen nun zur Genüge, daß Art. 23 nicht zur Fest-
stellung des Gesetzesbegriffes dienen sollte. Dieser Be-
griff wurde vielmehr beim Erlaß der Verfassungsurkunde
ohne weiteres als allgemein bekannt vorausgesetzt. Die
hessische Verfassung akzeptierte einfach den Gesetzesbe-
griff, welcher sich aus den damals soeben erlassenen
süddeutschen Konstitutionen als allgemein gültig ergab:
Das heißt, man verstand unter Gesetz im materiellen
Sinne ebenso wie die bayrische, württembergische, badische
Verfassung und andere Verfassungen und Verfassungs-
1 Vgl. hierüber Seydel, bayr. St R. II S.316 ff., bes. S. 318;
Anschütz a. a. O. S. 167 ff.
2 LV. 1820 II; B. 2 H.4, Beil. 86 S. 51 u. H. 6, Beil. 114 S.“49.