Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Erster Jahrgang. 1873. (1)

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daß „das bisherige Verfahren im Verwaltungs= wie im Rechtswege“ für alle Streitigkeiten an- 
wendbar bleiben sollte, welche vor dem 1. Juli 1871 anhängig geworden waren, ohne die geringste 
Andeutung darüber zu geben, daß für eine gewisse Kategorie von Streitsachen der Ausdruck 
Lanhängig“ einen anderen Sinn habe, als für die übrigen. Daß auch das Verfahren im Rechts- 
wege spezlell erwähnt wird, beweist, welchen Werth die Reichstags-Kommission darauf legte, den 
Rechtsweg allen denjenigen Streitsachen offen zu halten, welche am 1. Juli 1871 überhaupt 
anhängig waren, nicht daß es in der Absicht lag, allen vor dem 1. Juli 1871 nicht rechtshängig 
gewordenen Sachen den Rechtsweg zu versperren. 
Die Kompetenz der Brandenburgischen Deputation zur Entscheidung der vorliegenden Streitsache 
ist aber auch noch aus einem anderen Grunde ausgeschlossen. Diese Sache war vor dem 
1. Juli 1871 im Verwaltungswege nicht blos anhängig geworden, sondern auch von der Regierung 
in Potsdam bereits entschieden. Diese Entscheidung war in dem früheren Verfahren, wie erwähnt, 
nur auf dem Rechtswege anfechtbar. Die Spruchbehörden des neuen Verfahrens entscheiden aber 
nach §. 38 des Reichsgesetzes im Verwaltungswege, sind also nicht berufen, an Stelle der Gerichts- 
behörden, im Rechtswege eine von der früher zuständigen Verwaltungsbehörde getroffene Entscheidung 
umzustoßen. Um die Aufhebung des Regierungsresolutes vom 16. Januar 1871 im Verwaltungs- 
wege zu ermöglichen, hat Kläger seine Zuflucht zu der Behauptung genommen, daß das gedachte 
Resolut nur ein Verwaltungsgutachten sei. In der That läßt sich die Kompetenz der Branden- 
burgischen Deputation nur auf dem Wege konstruiren, daß man, ohne das Regierungsresolut zu 
beachten, die jetzt anhängig gemachte Streitsache als eine neue, noch nicht entschiedene ansieht. 
Allein die Meinung, daß alle vor dem 1. Juli 1871 erlassenen im Rechtswege anfechtbaren 
Resolute der Verwaltungsbehörden unverbindliche Meinungsäußerungen seien, ist völlig unvereinbar 
mit der Kompetenz, welche §. 34 des Armenpflege-Gesetzes vom 31. Dezember 1842 den Ver- 
waltungsbehörden beilegt. Darnach waren die Landes-Polizeibehörden nicht zur Abgabe eines Gut- 
achtens, sondern zur „Entscheidung“ über Streitigkeiten der Armenverbände berufen. Ihre Ent- 
scheidung war im Rechtswege ansechtbar, sobald sie die Frage der Fürsorgepflicht betraf, verlor 
aber dadurch den Charakter einer Entscheidung so wenig, daß 16 alsbald vollstreckt werden konnte. 
Aus diesen Gründen war das erste Erkenntniß, wie geschehen zu bestätigen, und Kläger nach §. 58 
des preußischen Gesetzes vom 8. März 1871 in die Kosten der Berufungsinstanz zu verurtheilen. 
Das Bundesamt für das Heimathwesen hat wiederholt, mieft in Sachen des Schleswig-Holsteinischen Land- 
armenverbandes gegen den Ortsarmenverband von Altona folgenden Grundsatz ausgesprochen: 
Wenn nach §. 65 Ziffer 4 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 bei Berechnung der 
zweijährigen Frist zur Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes die vor dem 1. Juli 1871 
abgelaufene Zeitdauer des Aufenthalts in Ansatz kommt, so finden auch die Bestimmungen des 
Reichsgesetzes über die Art und Weise der Berechnung, insbesondere die Vorschriften des 
§. 14 über Unterbrechung und Ruhen der Frist auf die vor dem 1. Juli 1871 liegende Zeit 
des Aufenthalts Anwendung. 
Die Gründe der in oben erwähnter Streitsache am 10. März 1873 abgegebenen Entscheidung lauten 
solgendermaßen: 
Der erste Richter, welcher die Uebergangsbestimmung in §. 65 Ziffer 4 des Reichsgesetzes vom 
6. Juni 1870 in Bezug auf den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes durch Aufenthalt mit Recht 
auch für die Provinz Schleswig-Holstein nach Lage der früheren Gesetzgebung anwendbar erachtet, 
hat im vorliegenden Falle gleichwohl bei Berechnung der zweifährigen Erwerbsfrist die vor dem 
1. Juli 1871 liegende Zeit des Aufenthaltes nicht in Ansatz gebracht, weil er der Ansicht ist, daß 
nach dem damals noch geltenden provinzialen Armenrecht dieser Aufenthalt in die ehemals fünf- 
gesatähge Frist nicht einzurechnen gewesen sei, und aus diesem Grunde auch bei Berechnung der 
reichsgesetzlichen Frist keine Berücksichtigung finden könne. 
Es kann dahin gestellt bleiben, ob in der That nach §5. 58, 65 der Schleswig-Holsteinischen 
Armenordnung vom 29. Dezember 1841 durch vorübergehende öffentliche Unterstützung der Lauf der 
 
	        
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