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Kläger schlechterdings keinen Anlaß halte, die in Privatpflege befindliche Kranke in Armenpflege zu
übernehmen. Hat der Kläger gleichwohl der Krankenanstalt sämmtliche Kurkosten vom Tage der
Aufnahme an vergütet, so kann dies dem Verklagten nicht zum Nachthell gereichen. Wann der
Zeitpunkt eintrat, zu welchem die St. öffentlicher Unterstützung bedürftig und Kläger zur Gewährung
der ferneren Krankenpflege pflichtig wurde, hätte vom Kläger nachgewiesen werden müssen, ist aber
nicht ermittelt. Sonach muß es dahingestellt bleiben, ob die Armenpflege länger als sechs Wochen
gedauert hat und ob dem Kläger überhaupt ein Ersatzanspruch zusteht.
Die Argumentation des Verklagten in der Klagebeantwortung ist allerdings hinfällig. Nicht
die Verpflichtung des Dienstherrn zum Ersatze der Kurkosten, sondern die thatsächliche Gewährung
der Krankenpflege durch denselben schließt die Nothwendigkeit öffentlicher Unterstützung aus. Die
Krankenpflege wird aber thatsächlich vom Dienstherrn gewährt, mag er den erkrankten Dienstboten
selbst verpflegen, oder in einer Krankenanstalt in seinem Auftrage verpflegen lassen.
Aus den angeführten Gründen war unter Abänderung des ersten Erkenntnisses Kläger mit
dem erhobenen Anspruche in der angebrachten Art abzuweisen.
Zur Auslegung von §. 30 lit. b. des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870.
Das nachstehende, in seiner Begründung mitgetheilte Erkenntniß des Bundesamts vom 29. Juni 1874 in
Sachen des Landarmenverbandes der Provinz Hannover, Verklagten und Appellanten, wider den Ortsarmen-
verband der Stadt Hildesheim, Kläger und Appellaten, behandelt mehrere Fragen, deren Beantwortung von
Interesse für die Anwendung der in der allegirten Gesetzesstelle enthaltenen Vorschrift ist, daß bei Bestimmung
des fürsorgepflichtigen Landarmenverbandes ausnahmsweise nicht der Ort des Eintritts der Hülfsbedürftigkeit
maßgebend sein soll, wenn die Hülfsbedürftigkeit bei Entlassung aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr- oder
Heilanstalt hervortritt.
Der verklagte Landarmenverband ist in erster Instanz zur Uebernahme des anerkannt bomizil-
losen und in Geisteskrankheit verfallenen Victor F., sowie zur Erstattung der Auslagen des Klägers
verurtheilt worden, und hat fristzeitig Berufung eingelegt.
Das angefochtene Erkenntniß gründet sich auf folgenden Sachverhalt:
Victor F. hatte am 10. Mal 1872 in dem hannoverschen Dorfe Pohle gebettelt, gerieth in
den Verdacht, bei dieser Gelegenheit dem Halbmeier Frledrich S. ein Paar Schuhe gestohlen zu
haben, wurde von S. noch an demselben Tage bis in das hessische Dorf Rehren verfolgt, dort
unter Mitwirkung des Bürgermeisters festgenommen, weil man die gestohlenen Schuhe bei ihm fand
und von dem Bestohlenen nach Pohle zurückgeführt. Der Ortsvorsteher von Pohle machte ihn, wie
die Anzeige lautet, zum Arrestanten und lieferte ihn durch den Gemeindediener S. an das Gerichts-
gefängniß nach Münder ab, von wo er nach Hameln transportirt wurde. Im Gefängnisse zu
Hameln verfiel F. kurz vor der Hauptverhandlung am 24. August 1872 in Geisteskrankheit, und
wurde auf Antrag der Kronanwaltschaft am 3. September in die Irrenanstalt zu Hlldesheim auf-
genommen, in welcher er sich noch jetzt befindet. Die bis 12. Oktober 1872 erwachsenen Ver-
pflegungskosten hat die Kronanwaltschaft in Hameln auf den Fonds der Justizverwaltung über-
nommen, die später entstandenen nicht, weil inzwischen die über den Kranken verhängte Untersuchungs-
haft durch gerichtlichen Beschluß aufgehoben und hiervon die Verwaltung der Irrenanstalt mit dem
Ersuchen in Kenntniß gesetzt worden war, den Gefangenen binnen drei Tagen aus der Anstalt zu
entlassen und dem Magistrat in Hildesheim zu überweisen. Die Entlassung ist unterblieben, weil
F. damals nicht transportabel war und der Magistrat von Hildesheim gegen die Entlassung des
Tobsüchtigen in die Straßen der Stadt protestirte. Vom 19. Februar 1873 ab hat übrigens
Kläger die vorläufige Fürsorge übernommen, nachdem seine Verpflichtung dazu in allen Instanzen
anerkannt worden war.
Hiernach erachtet der erste Richter für feststehend, daß Vickor F. in der Irrenanstalt zu Hildes-
heim, im Bezirke des hannoverschen Landarmenverbandes hilfsbedürftig geworden sei; er verneint
aber die Anwendbarkeit der in §. 30 lit. b. des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 speziell für
Personen, welche aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr- oder Heilanstalt hilfsbedürftig entlassen werden,
gegebene Vorschrift, weil die Entlassung des etc. F. aus der Irrenanstalt faktisch nicht stattgefunden