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Stettin bereils durch ununterbrochene zweijährige Abwesenheit erloschen gewesen sei. Da dieselbe
bis dahin auch keinen anderen Unterstützungswohnsitz erworben, sei der verklagte Landarmenverband,
in dessen Bezirk das Unterstützungsbedürfniß eintrat, zur Uebernahme der Fürsorge verpflichtet.
Verklagter hat seine demgemäß erfolgte Verurtheilung fristzeitig angefochten. Er macht
geltend, daß Richard H. Anfang Mai ebenso hilfsbedürftig gewesen sei, wie am 15. Juni 1872 —
was in erster Instanz unter Beweis gestellt ist — hebt hervor, daß dem Antrage des Vormundes
nach einer jedenfalls seit dem 14. Mai, dem Tage, an welchem die verehelichte N. vernommen
worden war, ungerechtfertigten Verzögerung entsprochen wurde, und beantragt Abänderung des
ersten Erkenntnisses, da nicht das Belieben des unterstützenden Armenverbandes, sondern die Noth-
wendigkeit öffentlicher Fürsorge den Zeitpunkt des Hervortritts der Hilfsbedürftigkeit bestimme.
Der Berufung des Berklagten konnte nicht stattgegeben werden.
Nach den vorgelegten Akten der Armen-Direktion zu Stettin ist als feststehend anzunehmen,
daß die Eheleute R. den Knaben Richard H., den Neffen der Frau, unentgeltlich verpflegt haben,
bis Armenpflege eintrat. Unzweifelhaft war während dieser Zeit der Knabe, wenn auch auf fremde
Unterstützung angewiesen, doch nicht hilfsbedürftig im armenrechtlichen Sinne. Die Nothwendigkeit
öffentlicher Unterstützung trat erst heroor, als die Pflegeeltern Abnahme der Fürsorge von der
Armenverwaltung verlangten mit der Erklärung, daß sie den Knaben ferner nicht unentgeltlich ver-
pflegen würden. Dies ist, soviel die Akten ergeben, erst im Juni 1872 geschehen, zu einer Zeit,
wo Ernestine H. bereits über 2 Jahre von Stettin abwesend war. Der Antrag des Vormundes
vom 1. Mai begründete zwar die nachgesuchte Berwilligung von Pflegegeld aus Armenmitteln damit,
daß die Eheleute R. den Knaben ohne Pflegegeld nicht behalten wollten. Allein von der verehe-
lichten R. selbst wurde bei ihrer Vernehmung am 14. Mai eine Erklärung gleichen Inhalts nicht
abgegeben, und ehe die Armenverwaltung sich Gewißheil darüber verschafft hatte, daß die Pflegeeltern
ernstlich von der ferneren Fürsorge für den Knaben sich lossagten, lag ein Anlaß zum Einschreiten
nicht vor. Die Lage des Knaben war, was keines Beweises bedarf, im Mai freilich dieselbe wie
im Juni, insofern er in Armenpflege hätte genommen werden müssen, wenn die Eheleute N. darauf
drangen. Der Zeitpunkt, zu welchem die Voraussetzung der Hilfsbedürftigkeit hätte eintreten können,
ist aber nicht entscheidend, sondern der Zeitpunkt, zu welchem die Hilfsbedürftigkeit hervorgetreten ist.
Daß Ernestine H. im Juni 1872 nicht blos, wie erwähnt, ihren Unterstützungswohnsitz in
Stettin verloren, sondern auch anderwärts einen neuen Unterstützungswohnsitz nicht erworben hatte,
ist vom Verklagten nicht bestritten. War sie demnach beim Eintritte der Hilfsbedürftigkeit ihres
Kindes mit letzterem heimathlos, so fällt die Fürsorge dem verklagten Landarmenverbande, in dessen
Bezirk das unterstützte Kind sich befindet, nach §. 30 lit. b des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870
zur Last. Der in zweiter Instanz nicht wiederholte Einwand des Verklagten, daß der Aufenthalt
der mittelbar unterstützten Mutter, nicht derjenige des unmittelbar unterstützten Kindes im Sinne
der angezogenen Gesetzesbesitmmung maßgebend sei, ist vom ersten Richter mit Recht für unbegründet
erachtet worden (cf. Wohlers Entscheidungen, Hest 2, S. 69).