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6. Heimath-Wesen.
Der unbestritten Landarme Jakob M. wurde am 30. August 1876, an welchem Tage er eine ihm gerichtlich
zuerkannte 4 wöchentliche Haftstrafe im Kreisgerichtsgefängniß zu Lissa verbüßt hatte, an Lungenschwindsucht
leidend und deshalb der Aufnahme in eine Krankenanstalt bedürftig, in das städtische Krankenhaus zu Lissa
aufgenommen und in demselben bis zu seinem bereits am 6. September dess. J. erfolgten Tod verpflegt. Der
Ortsarmenverband Lissa fordert deshalb von dem Landarmenverband der Provinz Posen, aus dessen Bezirk
seiner Zeit der M. in das Gerichtsgefängniß eingeliefert worden war, Erstattung der ihm erwachsenen Kur-
und Verpflegungskosten. Der Landarmenverband beantragte die Abweisung der Klage aus dem Grunde, weil
M. durch Erkenntniß vom 2. August 1876 wegen Bettelns und Landstreichens in wiederholtem Rückfalle mit
4 Wochen Haft bestraft und seine demnächstige Ueberweisung an die Landespolizeibehörde verordnet worden,
er demgemäß am 30. August nach verbüßter Strafe der Polizeiverwaltung zu Lissa zur Abführung in das
Arbeitshaus zu Kosten überliefert, aber nach ärztlichem Gutachten nicht transportfähig befunden und deshalb
auf Veranlassung der Polizeiverwaltung dem Stadtlazarethe zur Kur überwiesen wurde, sonach bis zu seinem
Ableben Polizeigefangener geblieben sei, die streitigen Kosten daher den Polizeifonds zur Last fielen.
Die Posensche Deputation für das Heimathwesen verurtheilte indessen den Landarmenverband zur
Erstattung der fraglichen Kosten, welche als Armenpflegekosten zu betrachten seien, weil M. aus dem Gerichts-
gefängnisse entlassen, und wenn auch zur Ueberführung in das Arbeitshaus bestimmt, doch nicht eo ipso so-
gleich schon Polizeigefangener im eigentlichen Sinne des Wortes geworden sei, sich vielmehr noch in einer
Zwischenlage befunden habe, da die polizeiliche Maßregel erst mit der Unterbringung in dem Arbeitshause
thatsächlich anfange, zumal M. dorthin nicht nothwendig habe transportirt werden müssen, vielmehr nach
dem Ermessen der Landespolizeibehörde auch in dem Vertrauen entlassen werden konnte, daß er sich freiwillig
dorthin begebe.
Das Bundesamt für das Heimathwesen hat am 30. November 1877, das erste Erkenntniß ab-
ändernd, die Klage abgewiesen.
Gründe.
Die Berufung des Verklagten erscheint begründet. Der Kläger hat weder in erster noch
in dieser Instanz die vom Verklagten in seiner Klagebeantwortung unter Beweis gestellten Be-
hauptungen bestritten; es ist also für thatsächlich zugestanden zu erachten, daß der 2c. M. durch
das Erkenntniß vom 2. August 1876 mit 4 Wochen Haft bestraft und derselbe zugleich nach
verbüßter Strafe der Landespolizeibehörde überwiesen worden, daß er demgemäß der Polizei-
verwaltung zu Lissa zur Abführung in das Arbeitshaus zu Lissa überliefert, vom Arzte jedoch
nicht transportfähig befunden und deshalb auf Veranlassung der Polizeiverwaltung dem Stadt-
lazarethe zu Lissa zur Kur überwiesen worden. Hiernach hat eine Entlassung des 2c. M. in die
Freiheit vor seinem Lebensende überhaupt nicht stattgefunden. Er ging unmittelbar aus dem
Gerichtsgefängnisse in die Gewalt der Organe der Landespolizeibehörde über, welcher er in Ge-
mäßheit des §. 362 des Reichsstrafgesetzbuchs durch das strafgerichtliche Erkenntniß überwiesen war,
wurde also alsbald Polizeigefangener und war dies auch noch in dem Augenblicke, wo seine
Transportunfähigkeit und die Nothwendigkeit erkannt wurde, ihn in die Krankenanstalt zu ver-
bringen, ist es auch während seines Verbleibens in derselben geblieben, da von einer Verfügung
der Polizeibehörde nichts erhellt, durch welche dieselbe die ihr nach dem Erkenntnisse zustehende
Befugniß, in Gemäßheit des §. 362 cit. über den M. zu verfügen, aufgegeben und dessen Frei-
lassung verordnet hätte.
Es unterliegt unter solchen Umständen auch keinem Zweifel, daß der 2c. M., wäre er
in dem Stadtlazarethe wieder hergestellt worden, nach seiner Genesung nicht hätte in Freiheit ge-
setzt werden dürfen, sondern der Polizeibehörde hätte wieder zugeführt werden müssen. Für die An-
nahme eines Zwischenzustandes, wie er nach den Ausführungen des ersten Richters stattgefunden
haben soll, bleibt unter den vorgetragenen thatsächlichen Verhältnissen kein Raum. War der M.
mithin zur Zeit, wo die Nothwendigkeit der Krankenpflege eintrat, Polizeigefangener, so müssen