Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Sechster Jahrgang. 1878. (6)

— 228 — 
Die erstinstanzliche Verurtheilung des verklagten Landarmenverbandes zum Ersatze der in der Zeit 
vom 26. Januar bis 30. April 1877 für den zwanzigjährigen Schneidergesellen S. aufgewendeten Kurkosten 
wird damit begründet, daß S., welcher eines Unterstützungswohnsitzes ermangelnd bis 1. Oktober 1871 Jahre 
lang auf Kosten des verklagten Landarmenverbandes unterhalten worden ist, präsumtiv auch jetzt noch kein 
Hülfsdomizil habe, insofern vom Verklagten weder bewiesen, noch auch nur wahrscheinlich gemacht worden 
sei, daß seine außereheliche Mutter, Friederike S., inzwischen einen Unterstützungswohnsitz erworben habe. 
Mit Recht findet Verklagter sich durch diese Entscheidung beschwert. 
Den Beweis der Domiillosigkeit zu führen, liegt, wie das Bundesamt in zahlreichen Präjudikaten aus- 
geführt hat, demjenigen Armenverbande ob, welcher einen Anspruch darauf gründet. Es ist also nicht Sache 
des in Anspruch genommenen Landarmenverbandes seinerseits zu beweisen oder glaubhaft zu machen, daß ein 
angeblich domizilloser Hülfsbedürftiger in der That einen Unterstützungswohnsitz habe. 
Der Beweislast wird der klagende Armenverband selbstverständlich dadurch im einzelnen Falle nicht 
enthoben, daß die Beweisführung mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Es kann sich nur fragen, ob 
nicht der Beweis des Mangels eines Unterstützungswohnsitzes, welchen §. 30 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 
1870 seiner Wortfassung nach erfordert, im Sinne des Gesetzgebers durch den Nachweis, daß ein Unter- 
stützungswohnsitz des Hülfsbedürftigen schlechterdings nicht zu ermitteln war, ersetzt wird. Diese Frage 
bedarf aber hier keiner näheren Erörterung, da Kläger in keiner Weise dargelegt hat, daß von ihm alle zu 
gebote stehenden Mittel, die Aufenthaltsverhältnisse der Friederike S. in den Jahren 1871—1876 zu ermit- 
teln, beziehungsweise ihren gegenwärtigen Aufenthalt zu erforschen, erschöpft worden sind. Aus den Prozeß- 
verhandlungen ergiebt sich nicht einmal, ob Kläger bei den Geschwistern Nachfrage gehalten hat. Da der- 
selbe auch der mit der Ladung zum heutigen Audienztermin ergangenen Aufforderung, die aus Anlaß des 
gegenwärtigen Unterstützungsfalles vor der Klagerhebung gepflogenen Verhandlungen nachträglich vorzulegen, 
nicht nachgekommen ist, so kann das Bundesamt um so weniger die Ueberzeugung gewinnen, daß aller Be- 
mühungen ungeachtet ein etwaiger Unterstützungswohnsitz der Friederike S. und ihres Sohnes nicht zu 
ermitteln gewesen sei. « 
Ebensowenig ändert an der Beweislast der Umstand etwas, daß Friederike S. zur Zeit der früheren 
Unterstützung erwiesenermaßen gleich ihrem verpflegten Kinde ohne Hülfsdomizil war. Denn es giebt keine 
Rechtsverm uthung dafür, daß eine Person, welche zu irgend einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt 
domizillos war, in der Zwischenzeit keinen Unterstützungswohnsitz neu gewonnen habe. Die Präsumtion für 
die Fortdauer der Landarmenqualität entbehrt jeder gesetzlichen Begründung, zumal die Maxime, daß Ver— 
änderungen nicht vermuthet werden, auf Verhältnisse keine Anwendung leidet, welche, ihrer Natur nach dem 
Wechsel ausgesetzt, nichts weniger als beständig sind. Vielmehr muß für jeden neuen Unterstützungsfall die 
Domizillosigkeit von dem beweispflichtigen Armenverbande auf's neue dargethan werden. 
Daß der Schneidergeselle S. wegen seines jugendlichen Alters bisher einen Unterstützungswohnsitz 
aus eigenem Rechte unmöglich hat begründen können, ist nun freilich klar. Dagegen ist es völlig ungewiß, 
ob nicht seine Mutter in der Zwischenzeit vom 1. Oktober 1871 bis 26. Januar 1877 durch zweijährigen 
ununterbrochenen Aufenthalt an ein und demselben Orte ein Hülfsdomizil begründet hat, welches beim 
Wiedereintritte der Hülfsbedürftigkeit des Sohnes noch bestand. Wenn die S., wie Kläger behauptet und 
unter Beweis stellt, ihrem Sohne seit Jahren keine Nachricht gegeben hat, so ist daraus nicht ohne weiteres 
zu schließen, daß sie ein vagabundirendes Leben führt. Eher läßt sich nach ihrer früheren Lebensweise ver- 
muthen, daß sie ihren Lebensunterhalt auch ferner durch Dienen gesucht und gesunden hat. Es mangelt 
daher in Betreff der Friederike S. an jedem Anhalt für die nach der Judikatur des Bundesamtes zum 
Beweise der Domizillosigkeit unter Umständen genügende Wahrscheinlichkeit, daß nach dem Verluste des bis- 
herigen Hülfsdomizils ein neues nicht wieder erworben worden ist. Mit der Mutter aber würde auch der 
Sbn, der dem Domizilverhältnisse der Mutter noch folgt, eines neuen Unterstützungswohnsitzes theilhaftig 
ge worden sein. 
Hiernach war, wie geschehen, das erste Erkenntniß abzuändern und Kläger als beweis fällig mit 
seinem Anspruche abzuweisen, wovon die Folge ist, daß demselben auch die Kosten und baaren Auslagen 
beider Instanzen zur Last fallen. 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.