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4. Heimath-Wesen.
Zur armenrechtlichen Familieneinheit.
Der Zimmermann H., welcher am 25. Mai 1825 zu Bullenstedt im Herzogthum Anhalt, geboren ist,
sich im Jahre 1854 zu Loga in Ostfriesland mit Indarieke, geborene W., verheirathet hat und am 1. April
1870 — mit seiner Familie — nach Bullenstedt zurückgekehrt ist, hat seit dem 1. Juli 1871 seine Ehefrau
und 4 Kinder böslich verlassen und ist seit dieser Zeit von Bullenstedt ununterbrochen abwesend gewesen,
indem er von Ort zu Ort umhergezogen ist und seine Familie ihrem Schicksale überlassen hat. Er ist un-
bestritten landarm geworden.
Die böslich verlassene Ehefrau hat sodann vom 1. Juli 1871 bis zum Jahre 1877 sich mit ihren
Kindern ununterbrochen, ohne öffentliche Armenunterstützung in Anspruch zu nehmen, in Bullenstedt ausgehalten,
und dadurch einen selbständigen Unterstützungswohnsitz im Gesammtarmenverbande SIlberstedt, zu welchem
Bullenstedt gehört, erworben. Im Jahre 1877 ist sie in das Armenhaus zu Ilberstedt ausgenommen worden,
und 1878 verstorben. Seit dieser Zeit sind ihre Kinder vom Gesammtarmenverband Ilberstedt unterstützt
worden.
Ihr Wittwer H. ist am 24. Oktober 1880 krank und in mittellosem und hülfsbedürftigem Zustande
in Anclam angekommen und hat, nachdem er daselbst die öffentliche Armenpflege in Anspruch genommen, in
das dortige Krankenhaus aufgenommen werden müssen, in welchem er vom 24. Oktober 1880 bis 28. Januar
1881 behandelt und verpflegt werden mußte. Seine, wie oben bemerkt, vom anhaltischen Landarmenverbande
seit dem Tode der Mutter unterstützten Kinder hatten am 24. Oktober 1880 das älteste das Alter von
20, das jüngste von 13 Jahren erreicht. An Kur= und Verpflegungskosten sind für ihn für 96 Tage
76 J 80 %4 verlegt worden, deren Erstattung der Ortsarmenverband Anclam von dem Landarmenverband
des Herzogthums Anhalt fordert.
Es fragt sich, welcher Landarmenverband — der anhaltische oder der pommersche — als derjenige
angesehen werden muß, in dessen Bezirk sich der Zimmermann H. beim Eintritt der Hülfsbedürftigkeit im
Sinne des §. 30b des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 befunden hat?
Durch Erkenntniß der Herzoglichen anhaltischen Deputation für das Heimathwesen zu Dessau vom
26. April 1883 ist der beklagte Landarmenverband des Herzogthums Anhalt nach dem Klageantrage zur Er-
stattung von 76 MA. 80 4 verurtheilt worden, indem die Deputation annahm, daß die Kosten der Unter-
stützung des eines Unterstützungswohnsitzes entbehrenden Familienhauptes von demjenigen Landarmenverbande
übernommen werden müßten, in dessen Bezirk schon vorher die Hülfsbedürftigkeit der befugter Weise getrennt
von ihm lebenden Ehefrau und Kinder hervorgetreten sei, indem es keinen Unterschied machen könne, ob das
Familienhaupt die Familie böslich verlassen oder sonst verschuldeter oder unverschuldeter Weise der öffentlichen
Armenpflege anheimfallen ließ.
Auf die von dem Beklagten eingelegte Berufung hat das Bundesamt für das Heimathwesen durch
Erkenntniß vom 15. September 1883 die erstrichterliche Entscheidung bestätigt.
Gründe:
Das Bundesamt hat, ausgehend von dem Grundsatze, daß die Unterstützung, welche den gesetzlich
am Unterstützungswohnsitze beziehungsweise dem armenrechtlichen Status des Familienhauptes theilnehmenden
Familiengliedern gewährt wird, als eine dem ersteren selbst gewährte zu betrachten sei, wiederholt angenommen,
daß auch die Unterstützung, welche der nach §. 17 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 befugter Weise von
dem Ehemanne getrennt lebenden Ehefrau gewährt wird, als eine mittelbar dem Ehemanne selbst gewährte
gelte. Es hat weiter das Prinzip der bleibenden Familieneinheit insbesondere in dem Erkenntnisse vom
14. Juni 1881 in Sachen Drosedow /. Landarmenverband des Kreises Pilkallen — Wohlers Entscheidungen
Heft 13 Seite 30 — mit gleicher Wirkung auch in dem Falle festgehalten, wo die befugter Weise getrennt
von ihrem Ehemanne lebende Ehefrau nach F. 17 cit. bereits einen selbständigen Unterstützungswohnsitz für
sich erworben hatte. Das Gleiche muß auch im vorliegenden Falle rücksichtlich der den Kindern des 2c. H.
seit dem im Jahre 1878 erfolgten Tode ihrer Muttier vom Ortsarmenverbande Ilberstedt gewährten
Unterstützung gelten, obgleich diese Kinder, da sie bei der durch die bösliche Entfernung des Vaters erfolgten