XI. Buch. Theater. 103
Zeit hat auch eine österreichische Dichterschule, nicht bloß durch die Masse, sondern durch
den inneren Wert ihrer Produktionen, berechtigtes Aufsehen gemacht. Als ihre Haupt-
vertreter mögen Schnitzler und Bahr gelten.
d. Schnitzler. Arthur Schnitzlers Domäne ist die Schilderung des mondänen
Wiener Lebens der sog. höheren Stände mit seiner liebenswür-
digen Leichtfertigkeit und seiner abschreckenden Häßlichkeit. Der ersteren Art gehören die
anmutigen „Anatol“, „Liebelei“, der letzteren die Tragikomödie „Das weite Land“
an: die Darstellung einer Gesellschaft, der nichts heilig ist, in der Ehebruch ein Pflicht-
gebot scheint, wo der einzig wirklich anständige Mensch von dem frivolsten Genußmenschen
niedergeknallt wird, der den traurigen Mut besitzt, nach diesem Mord — denn das ist
es fast mehr als ein Duell — der nichtsahnenden Mutter die Hand zu reichen und den
sog. Heroismus, ein junges Mädchen von sich zu weisen, das sich ihm ergeben hatte und
ihn in seine Verbannung begleiten will.
Schnitzler besitzt eine geradezu verblüffende Charakteristik und verfügt über einen
blendenden geistreichen Dialog, in dem neben manchen Banalitäten Tiefgedachtes geist-
reich ausgeführt wird. Auch das „Zwischenspiel“ wird als eine Tragikomödie bezeich-
net, ist aber mehr eine bürgerliche Tragödie, der ernste Kampf zweier Künstlernaturen,
die sich freigeben möchten und doch voneinander nicht lassen können.
Schnitzler hat außerdem im „Grünen Kakadu“ ein farbenprächtiges Bild der
französischen Revolution und in „Professor Bernhardi“ eine die antisemitische Be-
wegung in wissenschaftlichen Kreisen Österreichs charakteristisch porträtierende Zeichnung
gegeben mit ungemein sprechenden, photographisch wirkenden Bildern von Gelehrten und
Staatsmännern.
„Der Schleier der Beatrice“ fällt aus diesem Rahmen vollständig heraus.
Es ist ein vielgestaltiges, farbenprächtiges Renaissancedrama, das die plötzlich entflammte
Liebe der schönen Beatrice Nardi zu dem Dichter Filippo Loeschi, beider Tod, die Verein-
samung des Herzogs von Bologna, der Beatrice zu seiner Gattin erkoren und sie gleich
verloren hat, schildert. Schöne Verse, gründliche Kenntnis einer sinnesfrohen, kunst-
schwelgenden, im Angesicht des Todes zum Genuß taumelnden Zeit mechen d das Werk
zu einem reizvollen historischen Gemälde.
9. Bahr. Hermann Bahr ist ein Heimats- und Altersgenosse Schnitzlers;
sein 50. Geburtstag ist kürzlich mit allem Pomp gefeiert worden.
Mit Schnitzler teilt er das Osterreichische, die dramatische Lebendigkeit, das Witzvolle
und Geistreiche, nur ist er derber, moderner, vielseitiger und scheut vor keiner Verwegen-
heit zurück. Bevor er sich dem Drama ausschließlich ergab, hatte er als Journalist,
Theater- und Kunstkritiker gewirkt; der Journalton ist für seine Dramen einflußreich
geworden, und seine große Kenntnis der Theaterliteratur verführt ihn zu einer Ver-
wertung tausendfältiger Reminiszenzen. Er tischt alte Probleme auf, ohne sie lösen
zu wollen, wie etwa im „Star“: die plötzlich erwachte Zuneigung einer Primadonna
zu einem kleinen Beamten, in dem sie die „große Liebe“ entzündet zu haben glaubt
103 1635