Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

108 Buch I. Abschnitt 3. Die Rechtsinhaber. 
c) Die Einrichtung der von weltlichen Beamten geführten Standes- 
register besteht im Gebiet des rheinischen Rechts schon seit Anfang des 
19. Jahrhunderts. Im größern Teil des übrigen Deutschlands ist sie dagegen 
erst 1874 und 1875 aus kirchenpolitischen Gründen eingeführt,“ während vor- 
her die Führung der Standesregister der Kirche überlassen war. 
d) Die Lebens= und Todesvermutung hat sich erst seit der Rezeption 
entwickelt; vorher hatte für diese Vermutungen ein Bedürfnis kaum bestanden, 
da das mittelalterliche deutsche Prozeßrecht auch über solche Tatsachen, die der 
Schwörende nur glaubte, nicht aber aus eigner Wahrnehmung kannte, einen 
Eidesbeweis zuließ und der Beweis des Todes eines Verschollenen deshalb 
nicht besonders schwer war. Doch war das seit der Rezeption ausgebildete 
Verschollenheitsrecht nicht etwa römischen Ursprungs, da die Römer ein solches 
so wenig gekannt hatten wie die Deutschen, sondern nur Erzeugnis der Glossa- 
torenweisheit und der Gerichtspraxis.= 
Die für die Vermutungen maßgebenden Fristen wurden verschieden berechnet. Ent- 
weder nahm man an, daß der Verschollene 100 Jahre alt geworden sei, ohne Rücksicht auf 
die Dauer seiner Verschollenheit; dies wurde schließlich in Deutschland gemeines Recht, nur 
daß man statt des 100. das 70. Lebenssjahr einsetzte („sächsische Praxis“)./ Oder man nahm 
an, daß der Verschollene nach dreißigjähriger Dauer der Verschollenheit gestorben sei, ohne 
Rücksicht auf sein Lebensalter (,„schlesische Praxis“); dies wurde von den meisten neuern 
Gesetzen angenommen, nur daß man die Fristen noch mehr verkürzte, z. B. in Preußen auf 
10 Jahre, und zugleich für Minderjährige und Personen über 65 Jahre doch wieder auf 
das Lebensalter Rücksicht nahm. 
Anfangs griff die Todesvermutung kraft Gesetzes Platz. Erst seit dem 18. Jahrh. 
wurde eine gerichtliche Todeserklärung mit vorausgehendem Ausgebot gefordert. Nach den 
meisten Gesepen wirkte die Todeserklärung „konstitutiv“, d. h. als Todestag des Verschollenen 
galt der Tag, an dem die Todeserklärung erging oder rechtskräftig wurde.10 
Eine positive Lebensvermutung wurde der Todesvermutung z. B. in Altpreußen und 
Württemberg, nicht aber z. B. in Hannover zur Seite gestellt.11 
II. 1. Im altdeutschen Recht spielte der Geschlechtsunterschied eine 
weit größere Rolle als jetzt: die Frauen standen lebenslänglich unter Vor- 
mundschaft, der Vater hatte im Erbrecht meist den Vorrang vor der Mutter, 
der Sohn vor der Tochter usw.12 Doch sind diese Regeln im größten Teil 
Deutschlands schon gegen Ende des Mittelalters abgeschwächt und schließlich 
ganz verschwunden. — Seit der Rezeption wurden den Frauen die aus dem 
römischen Recht stammenden sog. „weiblichen Rechtswohltaten“ gewährt; nament- 
lich wurden die Bürgschaften der Frauen nur bei Beobachtung gewisser strenger 
Vertragsformen für verbindlich erklärt. Diese römischen Regeln sind erst in 
neuester Zeit beseitigt, z. B. in Preußen erst durch Ges. v. 1. Dezember 1869.13 
2. Die rechtliche Abgrenzung des jugendlichen Alters hat im Lauf 
6) Preuß. Ges. v. 9. März 74: RGes. v. 6. Febr. 75. 
7) Bruns, Jahrb. d. gem. Rechts 1 S. 90. 8) Roth 1 S. 352. 
9) Roth 1 S. 3s43. 10) Roth 1 S. 361. 11) Roth 1 S. 368. 
12) Ed. Roth. 204; sächs. Lehnr. 2 § 1. 
13) Stobbe-Lehmann 3 S. 380.
	        
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