§ 60 a. Schriftlichkeit. 221
form durch ein Telegramm nicht genügt werden kann, mag auch die Urschrift
des Telegramms von der Partei eigenhändig unterschrieben sein "; denn diese
Urschrift bleibt ja im Besitz der Telegraphenanstalt.
Beispiele. I. A. hat die Bürgschaft für eine Schuld des B. gegenüber C. mündlich
übernommen und setzt unter den Augen des C. einen formgerechten Bürgschaftsschein auf;
gleich nachdem er den Schein unterschrieben, wird C. plötzlich abgerufen; als er zurückkehrt
und die Auslieferung des Scheins fordert, erklärt A., er habe sich anders besonnen und
lehne die Ubernahme der Bürgschaft ab. Hier ist A. im Recht; denn er hatte ja den Schein
dem C. noch nicht vorgelegt oder ausgehändigt, war also noch nicht rechtlich gebunden.
II. Derselbe Fall; nur hatte A. den fertigen Schein dem C. vorgelegt; die Aushändigung
des Scheins an B. hatte er dagegen unterlassen, weil er ihn erst noch für sich kopieren
wollte. Hier ist A. gebunden. Denn daß der Schein dem Gläubiger nicht bloß vorgelegt,
sondern auch ausgehändigt wird, ist nicht erforderlich. In vielen Fällen würde ja auch
die Aushändigung des Scheins an den Gläubiger gar nicht angebracht sein, z. B. dann,
wenn die Bürgschaftserklärung Bestandteil einer größeren Urkunde ist, auf deren Besitz der
Gläubiger kein Recht hat.
b) Besondre Regeln gelten ferner, wenn bei dem Abschluß eines Ver-
trages die Erklärungen aller beiden Parteien schriftlich abgegeben werden
müssen, eine Form übrigens, deren Beobachtung im bürgerlichen Gesetzbuch nur
ein einziges Mal — bei der Miete oder Pacht eines Grundstücks für mehr
als ein Jahr — vorgeschrieben ist (566). In diesem Fall sind nämlich die
Erklärungen beider Parteien in der Art als formelle Einheit zu behandeln,
daß ihr Text in einer einheitlichen Urkunde aufgezeichnet wird und jede Partei
diese ganze Urkunde, also nicht etwa bloß den Teil, der ihre eigne Erklärung
enthält, unterschreiben muß; doch brauchen die Unterschriften der beiden Par-
teien nicht neben= oder nacheinander auf demselben Schriftstück zu stehn, sondern
es genügt, wenn die Vertragsurkunde in mehreren gleichlautenden Exemplaren
ausgestellt wird und jede Partei das für die Gegenpartei bestimmte Exemplar
unterschreibt (126 II). Die Folge ist, daß der Vertragsschluß nicht nur nicht
durch Telegramme, sondern auch nicht durch gewöhnlichen Briefwechsel von-
statten gehn kann; denn die Briefe, die die beiden Vertragsparteien auswechseln,
pflegen ja nicht wörtlich gleichlautend zu sein.
Beispiele. I. A. bietet dem B. brieflich eine Wohnung zur Miete auf 5 Jahr vom
1. Oktober 08 ab für jährlich 5000 Mk. an; B. antwortet unverzüglich brieflich, daß er den
Antrag annehme. Hier gilt der Vertrag nicht auf 5 Jahr, sondern nur auf unbestimmte
Zeit (566); denn er ist, da A. nur seinen Antrag, B. nur seine Annahme unterschrieben
hat, nicht „schriftlich" abgeschlossen. II. Derselbe Fall; nur hat B. seinen Annahmevermerk
unmittelbar unter A.s Antrag gesetzt und den Antrag dem A. in dieser Gestalt zurückge-
schickt. Hier ist dieselbe Entscheidung geboten wie zu 1; denn jetzt hat zwar B. den An-
trag und die Annahme unterschrieben, A. dagegen bloß den Antrag. III. Derselbe Fall;
nur hat A. seinen Namen auch unter B.s Annahmevermerk gesetzt und den Brief in dieser
Form dem B. nochmals zugesendet. Hier ist endlich die Form gewahrt.
Aus den vorstehenden Regeln folgt, daß A., wenn er dem B. eine Mietwohnung in
der vorgenannten Art auf 5 Jahr brieflich zur Miete anbietet, an den Antrag nicht einmal
einstweilen gebunden ist, sondern daß auch dieser Antrag nur für unbestimmte Zeit gilt;
denn der Antrag zu einem formbedürftigen Vertragsschluß unterliegt ja demselben Form-
6) Ortmann Anm. 3b zu § 126. Abw. Hölder S. 283.
7) RG. 59 S. 245.