6 Einleitung.
war. Deshalb stand die einzelne praktisch festgestellte Regel meist bloß in ihrer
Vereinzelung da, und der innere Zusammenhang des gesamten Regelschatzes blieb
unaufgedeckt. Doch fehlte in Wahrheit dieser Zusammenhang durchaus nicht,
und nichts wäre falscher, als das deutsche Recht prinziplos zu nennen. Die
allgemeinen leitenden Prinzipien waren nur unausgesprochen oder sogar un-
bewußt.
So bestimmte man z. B. Eigentum, Grundgerechtigkeit, Pfandrecht gleichmäßig als
Befugnisse, die eine körperliche Sache mit unmittelbarer Wirkung gegen jeden Dritten, der
nicht ein entgegenstehendes Recht erwirbt, ergreifen; aber man brachte es sich nicht zum Be-
wußtsein, daß alle diese Rechte ebendeshalb von gleicher Art seien und zu der großen Gruppe
der dinglichen Rechte gehören, und formulierte deshalb auch den Begriff des dinglichen
Rechts nicht. Oder man regelte die Erbfolge nach den Grundsätzen der Parentelenordnung,
begnügte sich aber, die Parentelenordnung durch ein bloßes, nicht einmal genau passendes
Gleichnis auszudrücken. Ubrigens läßt sich nicht verkennen, daß das deutsche Recht im Lauf
der Zeit auch in der Formulierung seiner Regeln erhebliche Fortschritte machte; ein Vergleich
zwischen der lex Salica und den karolingischen Kapitularien und zwischen diesen und dem
Sachsenspiegel oder den Goslarer Statuten läßt hierüber keinen Zweifel.
VI. Das deutsche Gewohnheitsrecht war anfangs ein ungeschriebenes Recht auch in
dem Sinn, daß es nicht einmal privatim niedergeschrieben, sondern bloß mündlich fort-
gepflanzt wurde. Nur über einzelne Rechtsfragen — oder im Bereich eines örtlich eng-
begrenzten Geltungsgebiets (etwa eines bischöflichen Hofes) auch über größere zusammen-
hängende Rechtsinstitute — ward hier und da die Auskunft erwählter Sachverständiger oder
einer ganzen Gerichtsversammlung eingeholt und als ein sogenanntes „Beistum“ schriftlich
festgestellt. Erst im späteren Mittelalter finden sich auch umfassendere Rechtsaufzeichnungen
und sogar sogenannte „Rechtsbücher“, d. h. systematische Bearbeitungen des geltenden Rechts.
Unter ihnen nimmt weitaus den ersten Rang der Sachsenspiegel des Eike von Repgau ein;
neben ihm kommen noch für süddeutsche Verhältnisse der Schwabenspiegel und das kleine
Kaiserrecht, sowie in Norddeutschland eine Anzahl stadtrechtlicher Arbeiten, namentlich aus
dem Gebiete des Magdeburger Rechts, in Betracht.
b) Die Rezeption des römischen Rechts. 13
84.
I. Die ruhige Entwicklung des deutschen Rechts, wie sie bisher geschildert
wurde, ist in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts jäh unterbrochen worden:
es wurde jetzt ein sehr weitläufiges Gesetzbuch eingeführt, das sich keineswegs
wie die älteren deutschen Gesetze eng an das bisherige Gewohnheitsrecht an-
schloß, ihm vielmehr schroff widersprach. Das neue Gesetzbuch war aber nicht
in Deutschland selbst verfaßt, sondern in Byzanz, vor etwa neunhundert Jahren.
Es war das corpus juris eivilis Kaiser Justinians.
II. So war also das römische Recht bei uns „rezipiert“. Doch schrieb
man ihm nur „dsubsidiäre“ Geltung zu, d. h. man gab jeder einheimischen
Regel, sobald sie für einen bestimmten Bezirk als Gesetzes= oder Gewohnheits-
recht sicher nachgewiesen werden konnte, den Vorzug vor dem Fremdrecht, ließ
also letzteres nur gelten, soweit das heimische Recht eine Regel überhaupt
1) Literatur bei Schröder 8 66.