Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

8 4. Geschichtliche Entwicklung des bürgerl. Rechts. 7 
nicht aufgestellt hatte oder die heimische Regel dunkel oder von zweifelhafter 
Geltung war; auch schloß man einige wenige römische Rechtsregeln und Rechts- 
institute als veraltet von der Rezeption vollständig aus. Hiervon abgesehn 
galt aber die Rezeption dem römischen Recht im ganzen („in complexu“): man 
nahm aus dem römischen Recht nicht etwa bloß das auf, was für deutsche 
Verhältnisse zweifellos zu passen schien, sondern machte umgekehrt höchstens eine 
Ausnahme bei dem, von dem zweifellos feststand, daß es nicht paßte. 
Beispiele I. 1. Weil die Rezeption nur subsidiär wirkte, blieb in vielen Gegenden 
Deutschlands die Gütergemeinschaft zwischen Ehegatten, der Satz, daß beim Tode eines 
Bruders die Eltern mit Ausschluß der Geschwister seine alleinigen Erben sind, der Voll- 
jährigkeitstermin von 18 oder 21 Jahren auch nach der Rezeption trotz ihres Gegensatzes 
zum römischen Recht in Kraft. Denn diese Institute waren so populär und in ihren Grund- 
gedanken so klar, daß man ihre gewohnheitsrechtliche Geltung für gewisse Bezirke bei Beginn 
der Rezeption nicht in Abrede stellen konnte; war das aber nicht möglich, so war damit auch 
die Fortgeltung dieses Instituts trotz des weiteren Vorrückens der Rezeption fürs erste ge- 
sichert. 2. Nicht rezipiert wurde das Institut der Sklaverei und das der stipulatio; denn 
darüber, daß beide sich zur Rezeption nicht eigneten, konnte ja kein Zweifel sein. II. Da- 
gegen wurde das römische Testament und das römische formelle Noterbenrecht der sui 
rezipiert. Denn der Widerspruch des einheimischen Rechts war hier kein offenbarer: man 
konnte allenfalls sagen, daß das einheimische Recht die Testamente zwar nicht anerkannte, 
aber doch auch nicht verbot, und konnte darauf hinweisen, daß sich gewisse Ansätze zur Zu- 
lassung der Testamente bereits vor der Rezeption bei uns bemerkbar gemacht hatten. Daß 
aber, wenn schon nicht das Testament, so doch jedenfalls das Noterbenrecht der sui für 
Deutschland sehr unpassend war, sah man nicht ein, sondern gab sich der Hoffnung hin, 
das deutsche Volk werde allmählich zum Verständnis dieser und andrer römischer Finessen 
heranreisen. 
III. Mannigfache Gründe haben bei der Rezeption zusammengewirkt. Der 
Hauptgrund war, daß die Rechtsprechung, durch die nach wie vor die Fort- 
entwicklung des Privatrechts in Deutschland beherrscht ward, nunmehr aufge- 
hört hatte, volkstümlich zu sein. Denn sie war unter den Einfluß „gelehrter" 
Personen geraten, zunächst mittelbar, indem diese Personen als Sachverwalter, 
Gerichtsschreiber, Schiedsrichter, bei der Urteilsfällung mitwirkten, später auch 
unmittelbar, indem sie als ordentliche Mitglieder in die Gerichte eindrangen; 
und als 1495 das Reichskammergericht begründet wurde, ist ausdrücklich vor- 
geschrieben worden, daß die Hälfte der Richter Doctores juris sein müßten. 
Die Gelehrten hatten nun aber ihre Rechtskenntnisse nicht im praktischen Leben, 
nicht durch Beobachtung deutscher Rechtsübung, sondern auf Universitäten oder 
aus Büchern erworben, und hier war ihnen — im Zeitalter der Renaissance 
selbstverständlich! — neben dem kanonischen nur das justinianeische Recht be- 
gegnet. Und das römische Recht erschien ihnen als das Weltrecht, als das 
ewig wahre Vernunftrecht; kritiklos meinten sie, daß dies Recht ebendeshalb 
auch in Deutschland anwendbar sei, zumal es ja von den römischen Kaisern, 
also den Rechtsvorgängern der Kaiser des römischen Reichs deutscher Nation 
herrühre. Diese Meinung setzten sie auch tatsächlich durch, indem sie den 
Widerspruch der Freunde des heimischen Rechts durch scholastische Dialektik zu 
brechen wußten. Natürlich unterstützte auch die römische Kirche, besonders auf
	        
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