Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

8 60f. Unvollständige u. unfertige Rechtsgeschäfte. Dissens beim Vertragsschluß. 233 
Vertragsschluß die Willensäußerungen beider Parteien miteinander überein- 
stimmen müssen, so gelangt man zu dem Ergebnis: wollen zwei Parteien einen 
Vertrag schließen, so müssen beide über den Mindestinhalt des Vertrages über- 
einstimmende Außerungen abgeben, oder kürzer, sie müssen sich über den 
Mindestinhalt des Vertrages einigen. Dagegen schadet es nichts, wenn sie 
über andre mit ihrem Vertrage zusammenhängende, aber nicht zu dessen Mindest- 
inhalt gehörige Punkte zu einer Einigung nicht gelangen. 
Beispiele. I. Referendar A. schreibt an seinen Freund und Kollegen B.: „willst Du 
mir meinen Dernburg abkaufen? letzte Auflage, wie neu; halber Ladenpreis“; B. schreibt 
zurück: „ich nehme dein Anerbieten gern an, schicke mir den Dernburg recht bald“; nach- 
träglich stellt sich heraus, daß A. Dernburgs Pandekten, B. Dernburgs bürgerliches Recht 
gemeint hat. Hier ist ein Vertrag nicht zustande gekommen; denn zum Mindestinhalt eines 
Kaufvertrages gehört nach Gesetzesvorschrift die Einigung über die verkaufte Sache; und 
diese Einigung ist hier nicht erzielt. II. Der Engländer C. will von D. eine Wohnung 
mieten; die Wohnung ist aber in übelstem Zustande, und C. verlangt deshalb, daß D. sie 
zunächst gründlich instand setze, während D. umgekehrt mit Rücksicht auf den billigen Preis 
die Wohnung so vermieten will, wie sie ist, und etwaige Reparaturen dem Mieter überläßt; 
nun kann aber C. kein deutsch und D. nur ganz wenig englisch; sie beschließen deshalb 
gemeinsam, den im Hause D.s wohnenden E., der angeblich gut englisch spricht, als Dol- 
metscher zuzuziehn; E. tritt denn auch in Tätigkeit, jedoch lediglich mit dem Erfolge, daß 
C. und D. sich gründlich mißverstehn; jeder nimmt an, der Gegner habe in der streitigen 
Frage nachgegeben und schließen in diesem Sinn den Vertrag ab. Hier ist der Vertrag 
gleichfalls nicht zustande gekommen. Denn eine Vereinbarung darüber, ob der Vermieter 
oder der Mieter die Wohnung instand zu setzen habe, gehörte zwar nicht nach Gesetzes- 
vorschrift, wohl aber nach dem übereinstimmenden Belieben beider Parteien zu dem Mindest- 
inhalt des Mietvertrages; und diese Einigung ist hier nicht erzielt. III. F. will sich von 
seinem Freunde G. 1000 Mk. borgen und erhält auch das Geld tatsächlich von ihm; G. hat 
aber das Geld nur gegeben, weil er es als selbstverständlich ansah, daß F. es mit den 
üblichen 4% verzinsen müsse und daß er es mit einmonatiger Kündigungsfrist zurück- 
fordern könne; dagegen hat F. es umgekehrt für selbstverständlich gehalten, daß er dem 
Freunde keine Zinsen zu zahlen brauche und daß ihm eine sechsmonatige Kündigungsfrist 
zustehe; doch haben F. und G. sich über beide Punkte nicht ausgesprochen; denn ein jeder 
erachtete ja seine eigne Annahme als „selbstverständlich" und deshalb eine Verhandlung dar- 
über für unnütz. Hier ist ein gültiger Vertrag zwischen F. und G. zustande gekommen. 
Freilich ist auch hier die Einigung der Parteien, gerade wie zu I1 und II, eine unvoll- 
ständige. Doch gehören die Differenzpunkte nicht zum Mindestinhalt des Darlehnsvertrages, 
weder nach Gesetzesvorschrift noch — da ja die Parteien eine Vereinbarung über jene Punkte 
beide für überflüssig hielten! — nach dem Belieben der Parteien. Die Lücke, die der 
Darlehnsvertrag in Anschung beider Punkte aufweist, ist kraft Gesetzes dahin auszufüllen, 
daß F. keine Zinsen zu zahlen hat und daß die dem F. zustehende Kündigungsfrist weder 
einen noch sechs, sondern drei Monate beträgt (609). 
b) Daß irgendein mit dem Vertrage zusammenhängender Punkt kraft 
Beliebens der Parteien zum Mindestinhalt des Vertrages zu rechnen ist und 
deshalb die Parteien sich über diesen Punkt einigen müssen, ist im Zweifel 
schon dann anzunehmen, wenn auch nur eine der Parteien im Lauf der Ver- 
handlungen eine Vereinbarung über diesen Punkt gefordert hat (154 1 Satz 1). 
Beispiel. A. will sein Landgut an B. verpachten, aber nur, wenn B. seinen alten 
auf Lebenszeit angestellten Inspektor C. mit übernimmt; er erklärt dies denn auch dem B. 
gleich bei Beginn der Verhandlung, worauf dieser erwidert: „darüber können wir ja am 
Schluß sprechen“; nunmehr werden A. und B. über die sonstigen Pachtbedingungen einig,
	        
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