Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

246 Buch I. Abschnitt 5. Rechtsgeschäfte. 
der genannten Art schließen. Oder sollen beide darum losen, wer von ihnen weichen soll? 
2. O. verkauft sein bisher ordentlich geführtes Wirtshaus an der russischen Grenze an R., 
obschon er weiß, daß dieser in dem Hause ein Asyl für Schmuggler und Widdiebe errichten 
will. Hier verstößt nicht der Inhalt des Geschäfts, sondern nur, was später dem Geschäft 
folgen wird, gegen die guten Sitten.s Anders aber, wenn R. den von Q. geforderten Kauf- 
preis nur mit Rücksicht auf den hohen Gewinn, den ihm sein Asyl in Aussicht stellt, be- 
willigt hat; denn alsdann ist auch der Inhalt des Geschäfts von den unsittlichen Zwecken, 
die R. mit dem Geschäftsabschluß verfolgt, infiziert; und zwar ist in diesem Fall das Ge- 
schäft selbst dann nichtig, wenn Q. das unsittliche Kalkül des R. nicht gekannt hat; denn 
das Gesetz macht die Nichtigkeit eines unsittlichen Vertrages nicht davon abhängig, daß die 
Unsittlichkeit auf seiten beider Vertragsparteien vorliegt. 3. S. zwingt dem T. ein Schenkungs- 
versprechen rechiswidrig durch Drohungen ab. Hier verstößt nicht der Inhalt des Schenkungs- 
versprechens, sondern nur die Art, in der es zustande gekommen ist, gegen die guten Sitten; 
das Versprechen ist also nicht nichtig, sondern nur nach einer später zu besprechenden Regel 
(123) anfechtbar. 4. U. verspricht dem Dr. V., eine von diesem erfundene gefährliche Me- 
dizin gegen ein Honorar von 200 Mk. an sich probieren zu lassen. Hier verstößt das Ver- 
sprechen U.s zweifellos gegen die guten Sitten, scheint also nichtig zu sein. Nun würde 
aber ein Verstoß gegen die guten Sitten nicht vorliegen und das Geschäft würde unbedenklich 
gültig sein, wvenn V. dem U. ein Honorar von 200 Mk. für den Fall verspräche, daß dieser 
aus freien Stücken die Probe mit der Medizin an sich vollziehen läßt. Demgemäß wird 
es zulässig sein, die erste der oben genannten Vereinbarungen dadurch vor der Ungültigkeit 
zu retten, daß man sie in eine Vereinbarung der zweiten Art umdeutet (s. oben S. 167 d). 
Auf diese Art wird es möglich, daß, wenn U. die Probe tatsächlich an sich vollziehn läßt 
und dabei zugrunde geht, seine Erben den Dr. V. wenigstens auf das Honorar be- 
langen können. 
Weil ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, nichtig ist, kann es auch 
keine dinglichen Wirkungen hervorbringen. Wenn also A. der B. einen Schmuck unter der 
Bedingung schenkt, daß sie in einem gegen A. schwebenden Ehescheidungsprozeß, in dem sie 
als Belastungszeugin vorgeladen ist, ihr Zeugnis verweigert, so geht das Eigentum des 
Schmucks auf die B. nicht über. 
Überraschend ist die Entsch. des RG.s Bd. 62 S. 266, in der das Reichsgericht ge- 
wisse von einer andern kaiserlichen Behörde abgeschlossene Verträge mit beachtenswerter 
Energie als unsittlich brandmarkt. Doch steht die Richtigkeit dieser Entscheidung leider nicht 
auf der Höhe ihrer Energie; sie kann geradezu als Schulbeispiel verkehrter Judikatur be- 
nutzt werden. 
Zweiselhaft ist, ob ein Geschäft gegen die guten Sitten verstößt, wenn sein Inhalt 
zwar nicht Gebote der Sittlichkeit, aber doch Gebote des Anstandes verletzt; Beispiel: ein 
Arzt macht mit seinem Diener aus, daß die Trinkgelder, die seine Patienten ihm geben, an 
ihn, den Herrn, abzuliefern seien. Man wird gut tun, die Frage zu verneinen; denn die 
herrschenden Anstandsregeln sind noch willkürlicher und zugleich noch unsicherer als die der 
herrschenden Moral; sie verdienen es also nicht, daß man ein Geschäft bloß deshalb für 
nichtig erklärt, weil es ihnen widerstreitet. Höchstens könnte man bei ganz groben Ver- 
letzungen des Anstandes eine Ausnahme machen. Der Wortlaut des Gesetzes gestattet es 
aber nicht, zwischen groben und feinen Anstandsverletzungen zu unterscheiden. 
2. Das Verbot der Wuchergeschäfte' (138 1.). 
a) Das Verbot der Wuchergeschäfte trifft alle Rechtsgeschäfte, durch die 
jemand unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit 
eines andern sich oder einem Dritten Vermögensvorteile versprechen oder ge- 
währen läßt, die den Wert der Leistung dergestalt übersteigen, daß den Um- 
8) Siehe R. 63 S. 346. 
9) Raiser, privatrechtl. Behandl. des Wuchers (98); Cohn bei Gruchot 41 S. 784.
	        
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