Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

250 Buch J. Abschnitt 5. Rechtsgeschäfte. 
12. Anslegung der RKechtsgeschäfte.' 
8 63. 
Eine rechtsgeschäftliche Willensäußerung auslegen bedeutet soviel als 
angeben: „Was wird durch diese Willensäußerung bestimmt?“ 
I. Jede rechtsgeschäftliche Willensäußerung ist zunächst nach Maßgabe des 
gewöhnlichen Außerungsgebrauchs — insbesondre die „wörtliche" Willens- 
äußerung nach Maßgabe des gewöhnlichen „Sprachgebrauchs“ — auszulegen. 
Und zwar ist maßgebend der Gebrauch des Orts, an dem die Außerung ab- 
gegeben, bei Erklärungen an einen Abwesenden der Gebrauch des Orts, von 
wo die Erklärung abgesendet wurde.: 
Beispiele. I. 1. A. in Jülich richtet an B. einen geschäftlichen Antrag und fragt ihn 
nach längerem Verhandeln, ob er annehme; B. erwidert entweder mit einem bloßen Kopf- 
schütteln oder mit einem „doch"“. Hier hat B. den Antrag in ersterem Fall abgelehnt, in 
letzterem Fall angenommen. Denn nach allgemeinem Außcrungsgebrauch bedeutet ein 
Kopfschütteln in ganz Deutschland „nein“, ein „doch“ wenigstens in den Rheinlanden 
„ja“. 2. C. hat ein mehrere Seiten umfassendes gedrucktes Antragsformular, das 
ihm der in dem Formular als Antragsempsänger benannte D. überreicht hatte, unter- 
schrieben und dem D. ausgehändigt. Hier hat C. nach allgemeinem Außerungsgebrauch 
durch die Unterzeichnung und Aushändigung des Formulars kundgetan, daß der Inhalt 
des Formulars seinem Willen entspreche, und zwar nicht bloß der Inhalt der letzten 
Seite, auf der seine Unterschrist steht, sondern auch der Inhalt der vorhergehenden Seiten, 
soweit er mit dem Inhalt der letzten Seite einen sortlaufenden Text bildet. II. E. hat 
irgendwo in Deutschland ein Familienfideikommiß gestiftet und dabei bestimmt, daß nur 
Katholiken successionsfähig sein sollen. Hier ist nach dem gewöhnlichen deutschen Sprach- 
gebrauch unter einem „Katholiken“ jeder zu verstehn, der der römisch-katholischen Kirche 
sormell angehört. Es ist also einerseits ein Angehöriger dieser Kirche auch dann successions- 
sähig, wenn er ungläubig oder exkommuniziert ist. Es sind andrerseits nicht successionsfähig 
Angehörige einer griechisch-katholischen oder altkatholischen Kirche. III. F. hat sich von G. 
1000 Mk. zu 6% Zinsen auf zwei Jahre geborgt; während dieser zwei Jahre hat er an 
Kapital und Zins keine Zahlung an G. geleistet und will nun nach Ablauf der Frist seine 
Schuld auf einmal berichtigen; dabei berechnet er die Zinsschuld auf 6% von 1000 
— 60 Mk. Hier ist F. im Unrecht; denn man versteht, wenn man von „Zinsen“ schlecht- 
hin spricht, darunter nach allgemeinem Sprachgebrauch stets „Zinsen auf ein Jahr“; demnach 
muß F., da er das Kapital zwei Jahr genossen hat, zweimal 6% von 1000 = 120 Mk. 
an Zinsen zahlen. IV. Der dänische Schriftsteller H., der seinen ständigen Wohnsitz in 
Triest hat, aber gelegentlich sich auch in Dänemark und Deutschland aufhält, fordert bries- 
lich von dem ihm bis dahin unbekannten Verleger J. in Stuttgart ein Honorar von 200 
Kronen für eine in deutscher Sprache abgefaßte Arbeit und erhält von J. eine Zusage. 
Hier sind unter „Kronen“ österreichische (zu 0,85 Mk.) zu verstehn, wenn der Brief von 
Triest, dänische (zu 1,12 Mk.), wenn der Brief von Kopenhagen aus datiert war; war 
der Brief aus Hamburg datiert, so ist das Wort „Kronen“ zweideutig, da man in Ham- 
burg unter „Kronen“ ebensogut dänische wie österreichische versteht; die Auslegung nach 
dem gewöhnlichen Sprachgebrauch führt hier also nicht zum Ziel. 
  
1) Danz, Auslegung der Rechtsgeschäfte, 2. Aufl. (06); ders., Jahrb. f. Dogm. 38 
S. 373, 46 S. 381; Hölder, z. L. v. d. Auslegung der Willenserklärungen (07). 
2) Danz a. a. O. S. 178, 180.
	        
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