Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

254 Buch I. Abschnitt 5. Rechtsgeschäfte. 
Denn eine Bestimmung ist eine ausdrückliche nur, wenn sie sich aus den 
Willensäußerungen der Partei schon nach dem gewöhnlichen Außerungsgebrauch 
und nicht erst bei Berücksichtigung der Nebenumstände ergibt. 
Beispiel. Der italienische Maler A. hat in München sein neuestes auf einer dortigen 
Ausstellung befindliches Gemälde dem B. für 2000 Lire angeboten, und B. hat dies Angebot 
vorbehaltlos angenommen. Hier darf B. an A. die 2000 Lire zum Kurswert in deutschem 
Gelde entrichten, auch wenn er beim Abschluß des Kaufs aus den Umständen deutlich er- 
kennen konnte, daß A., der noch am nämlichen Tage nach Italien zurückreisen wollte, die 
Auszahlung der Summe in italienischem Gelde beanspruchte. Denn das Gesetz bestimmt, 
daß, wenn eine in ausländischer Währung ausgedrückte Geldsumme im Inlande zu zahlen 
ist, die Zahlung stets in deutscher Reichswährung erfolgen kann, es sei denn, daß Zahlung 
in ausländischer Währung „ausdrücklich" bedungen ist (244 I). Somit kann eine Verpflich- 
lung B.s, dem A. italienisches Geld zu zahlen, nicht auf eine „freie“ Auslegung des zwischen 
A. und B. abgeschlossenen Kaufvertrages gegründet werden; A. hätte sich vielmehr „aus- 
drücklich" Zahlung in italienischem Gelde ausbedingen müssen! 
III. 1. Die beiden bisher zu 1 und II besprochenen Auslegungsmethoden 
befassen sich nur mit der Frage: was hat eine Partei durch die Abgabe einer 
rechtsgeschäftlichen Willensäußerung in Wirklichkeit bestimmen wollen? Unser 
Recht begnügt sich nun aber mit der Beantwortung dieser Frage nicht, sondern 
verlangt, daß weiter festgestellt wird, was die Parteien in ihrem Rechtsgeschäft 
mutmaßlich bestimmt haben würden, wenn sie den oder jenen für ihre Rechts- 
verhältnisse erheblichen Umstand gekannt oder bedacht haben würden. Und 
solche Bestimmungen, die die Parteien zwar in Wirklichkeit nicht getroffen 
haben, aber doch bei besserer Kenntnis und Umsicht mutmaßlich getroffen haben 
würden, stellt unser Recht den von den Parteien wirklich getroffenen Bestim- 
mungen gleich und bezeichnet ihre Ermittlung gleichfalls als „Auslegung“ des 
Rechtsgeschäfts. 
2. Die auf die Feststellung des mutmaßlichen Willens der Parteien ge- 
richtete Auslegung der Rechtsgeschäfte unterliegt denselben Regeln wie die 
Auslegung, die sich lediglich mit der Feststellung des wirklichen Parteiwillens 
abgibt. Doch ist sie dadurch beschränkt, daß sie nur insoweit zulässig ist, als 
es die Interessenlage der bei dem Geschäft beteiligten Parteien gestattet. 
Beispiele. I. A. hat dem B. in notarieller Urkunde 1000 Mk. Reisestipendium 
zugunsten desjenigen der beiden Söhne B.s versprochen, der zuerst sein Examen bestehn 
würde; nun machen beide Söhne ihr Examen am selben Tage. Hier läßt sich nicht er- 
mitteln, wem von beiden A. die 1000 Mk. wirklich hat zuwenden wollen; denn A. hat an 
diesen Fall eben nicht gedacht. Es muß also, wenn die Schenkung nicht völlig wirkungslos 
sein soll, auf den mutmaßlichen Willen A.s zurückgegriffen werden. Der wird aber dahin 
gehn, daß beide das Stipendium teilen müssen. II. C. hat dem wohlhabenden D., mit 
dem er nur in rein geschäftlichen Beziehungen steht, ein auf zehn Jahre unkündbares Dar- 
lehn ohne jede Sicherheit gegeben; gleich darauf gerät D. durch unerwartete Verluste in 
Vermögensversall. Hier ist kein Zweifel, daß C., falls er an diesen Fall gedacht haben würde, 
dem D. entweder das Darlehn nicht gegeben oder sich ein kurzfristiges Kündigungsrecht 
ausbedungen haben würde, und auch D. wird nicht bestreiten, daß ihm dieser mutmaßliche 
Wille C.s, hätte er sich die Möglichkeit seines Vermögensverfalls vergegenwärtigt, erkennbar 
5) Siehe Müller-Erzbach, D. Jur. Ztg. 1906 S. 1237.
	        
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