266 Buch I. Abschnitt 5. Rechtsgeschäfte.
zustande gekommen; A. kann aber seine Annahmeerklärung und damit den ganzen Vertrag
wegen Irrtums anfechten. II. A. bietet dem B. rechtsverbindlich eine Ware zum Preise
von x an, und zwar nach Wahl B.s in Posten von 600—6000 Zentnern; B. nimmt darauf
den Antrag in Höhe von 6000 Zentnern an; A. liest aber in B.s Annahmebrief fahr-
lässigerweise statt 6000 nur 600 Zentner und ist daher zur Zeit der bedungenen Lieferung
auch nur zur Lieferung von 600 Zeninern imstande. Hier ist der Vertrag wie im Fall 1
über 6000 Zentner zustande gekommen; A. kann aber, anders als im Fall 1, trotz seines
Irrtums seinen Antrag und also auch den ganzen Vertrag nicht ansechten.
8. a) Besteht der Irrtum bei einem Vertragsschluß in einer unrichtigen
Auslegung des Antrages, so kann, wie soeben erwähnt, die Anfechtung ent-
weder vom Antragsteller oder auch vom Antragsempfänger ausgehn. Von
diesen beiden Parteien ist anfechtungsberechtigt die, deren Auslegung des An-
trages unrichtig ist, d. h. den richtigen Auslegungsregeln widerspricht. Denkbar
ist es, daß alle beide Parteien den Antrag falsch auslegen; dann sind sie beide
anfechtungsberechtigt.
Beispiel. Das Haus A.S in M. besteht aus einem Keller-, einem Erd-, einem
Mezzanin= und zwei höheren Geschossen; B. hat das zurzeit leer stehende Haus von oben bis
unten besichtigt und sich die Preise aller Wohnungen sagen lassen; nun schreibt er an A.,
daß er das erste Stockwerk auf ein Jahr mieten wolle, und A. nimmt diesen Antrag an;
später stellt sich heraus, daß unter dem „ersten“ Stockwerk B. das Mezzanin, A. die darüber
befindliche „Beletage“ verstanden hat; besondre Momente, die zu gunsten der Auslegung
des A. oder der des B. sprechen, sind nicht vorhanden; maßgebend für die Auslegung ist
also lediglich der allgemeine Sprachgebrauch in M. I. Stimmt dieser Sprachgebrauch mit
B.8 Auslegung überein, so gilt das Mezzanin als vermietet; die Miete kann aber von A.
angesochten werden. II. Stimmt der Sprachgebrauch mit A.S Auslegung überein, so gilt
die Beletage als vermietet; die Miete kann aber von B. angefochten werden. III. Ist nach
dem Sprachgebrauch von M. unter dem „ersten“ Stockwerk weder, wie B. will, das Mez-
zanin, noch wic A. will, die Beletage, sondern das Erdgeschoß zu verstehn, so gilt eben dies
Erdgeschoß als vermietet; die Miete kann aber sowohl von A. wie von B. angefochten werden.
IV. Ist endlich nach dem Sprachgebrauch von M. der Ausdruck „erstes Stockwerk“ mehr-
deutig, so ist die Miete überhaupt nicht zustande gekommen; ein Anfechtungsrecht kommt
also weder dem A. noch dem B. zu.
b) Der Irrtum beim Vertragsschluß kann auch darin bestehn, daß eine
der Parteien geglaubt hat, der Vertrag sei zwischen ihnen zustande gekommen,
während nach richtiger Auslegung der beiderseitigen Erklärungen die Parteien
zu einer Einigung nicht gelangt sind („versteckter Dissens“)./“% Dann kann die
irrende Partei diesen ihren Irrtum zu einer Anfechtung nicht benutzen; denn
die Anfechtung kann wohl einen gültigen Vertrag umstoßen, nicht aber einen
ungültigen Vertrag zu Kräften bringen.
Beispiele. I. A. besichtigt im Laden des B. verschiedne Vasen; während er eine Vase
in der linken Hand hält, deutet er mit der rechten deutlich auf eine andre vor ihm stehende
Vase und erklärt, diese kaufen zu wollen; B. dagegen zeigt seinerseits deutlich auf die Vase,
die A. in der Hand hält, und sagt: „das Stück da kostet 30 Mk.; ich schicke es Ihnen noch
heut zu“, worauf A. sich schweigend entfernt; der Vorgang erklärt sich dadurch, daß sowohl.
A. wie B. zerstreut waren und deshalb keiner die Handbewegung des andern bemerkte. Hier
nehmen beide Parteien irrtümlich an, ein Vertrag sei zwischen ihnen zustande gekommen,
während bei richtiger Auslegung ihrer beiderseitigen Erklärungen anzunehmen ist, daß sie
16) R. 58 S. 235, 66 S. 125.