Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

8 71. Verschulden. Vorsatz. Arglist. Fahrlässigkeit. 301 
Beispiele. I. A. wirft mit einem Stein nach einer Fensterscheibe, hinter der B. steht, 
und zertrümmert die Scheibe. Hier hat er die Scheibe vorsätzlich zertrümmert nicht bloß, 
wenn seine Absicht gerade darauf ging, die Scheibe zu zerstören, sondern auch dann, wenn 
er nur den B. zu treffen beabsichtigte, während die Scheibe ihm gleichgültig war. II. Der- 
selbe Fall; nur war seine Absicht, den B. durch den Steinwurf bloß zu erschrecken; ob der 
Stein die Scheibe zerschlug oder nur laut an sie anschlug, war ihm gleichgültig. Hier hat 
A. die Scheibe nicht vorsätzlich zertrümmert, und zwar selbst dann nicht, wenn er sich dessen 
bewußt war, wie sehr er die Scheibe mit seinem Wurf gefährdete. 
b) Eine besondre Art des vorsätzlichen Verschuldens ist die Arglist: es 
ist dies jedes vorsätzliche, schuldhafte, auf Täuschung eines andern gerichtete 
Verhalten. 
2. a) Fahrlässigkeit (culpa im engern Sinn)“ liegt vor, wenn je- 
mand fremde oder eigne Interessen ohne Vorsatz durch Vernachlässigung der 
gebührenden Sorgfalt schädigt. Welche Sorgfalt sich „gebührt“, ist der ver- 
ständigen Verkehrssitte zu entnehmen: es ist jene Sorgfalt, die die rechte Mitte 
zwischen der Angstlichkeit des Pedanten und der Leichtfertigkeit des Unbe- 
sonnenen hält. Demnach kommt es darauf nicht an, welche Sorgfalt das 
einzelne Individuum seinem Charakter nach selber von sich fordert: weder 
wird dem Sorglosen die Entschuldigung nachgelassen, daß er immer so zerstreut, 
leichtgläubig oder unordentlich sei wie in dem nun streitigen Fall, noch wird 
umgekehrt dem Pedanten, der ausnahmsweise einmal die gewohnte Angstlich- 
keit überwand und bei diesem ersten Versuch wirklich verständigen Benehmens 
wider Erwarten Unglück hatte, dies Verhalten als Schuld angerechnet. Da- 
gegen ist im übrigen auf die Individualität des Schuldigen volle Rücksicht zu 
nehmen: zwar nicht darauf, welche Sorgfalt er gemäß seinem Charakter von 
sich fordert, wohl aber darauf, welche Sorgfalt er gemäß seinen geistigen und 
körperlichen Kräften und seiner wirtschaftlichen Lage anzuwenden vermag, 
kommt es an. Denn der verständige Verkehr und also ihm folgend auch das 
Gesetz kann eben, auch wenn man hier von den wirklich Unzurechnungsfähigen 
absieht, nicht alle Menschen mit gleichem Maß messen, sondern verlangt größere 
Sorgfalt von dem Fachmann als von dem Unsachverständigen, von dem Ge- 
sunden als von dem Kranken, von Männern als von Frauen, von Vierzig- 
jährigen als von Zwanzig= oder Neunzigjährigen. 
Beispiele. I. A. gleitet bei Glatteis aus und beschädigt im Hinfallen ein neben ihm 
stehendes Kind. Ob hierin eine Fahrlässigkeit A.s liegt, hängt unter anderm von dem Alter 
A.#, von seiner Körperkraft, von seiner Gewandtheit sowie davon ab, ob sein Beruf ihn 
dazu nötigte, den Gang unter allen Umständen, also auch bei Glatteis, vorzunehmen. II. B. 
läßt eine fremde Sache, die er in der Hand trägt, aus Schrecken, weil ein Pferd dicht neben 
ihm durchgeht, fallen. Dies ist Fahrlässigkeit, wvenn B. ein robuster Kanonier, es ist im 
Einzelfall vielleicht keine Fahrlässigkeit, wenn B. ein bleichsüchtiges Nähmädchen ist. 
b) Die Fahrlässigkeit ist wieder von zwiefacher Art: sie ist entweder eine 
leichte oder eine grobe (culpa levis, lata). Auch für die Unterscheidung 
dieser beiden Arten ist allein die Verkehrssitte entscheidend. 
5) Siehe Weyl, System S. 456. 
6) Wendt, Arch. f. ziv. Pr. 87 S. 422. 7) Abw. Weyl, System S. 118.
	        
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