Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

14 Einleitung. 
II. Die herrschenden Theorien spiegeln sich in dem Gange der neueren 
Gesetzgebung wieder, wenn schon ihr Gegensatz hier minder schroff erscheint als 
in der wissenschaftlichen Erörterung. 
1. Überwiegend unter naturrechtlichem Einfluß stehen die drei großen 
Gesetzbücher („Kodifikationen“), die zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. 
Jahrhunderts abgefaßt wurden, das preußische allgemeine Landrecht von 1794, 
der code civil von 1804, das österreichische bürgerliche Gesetzbuch von 1811. Das 
zeigt sich zunächst formell darin, daß alle drei Gesetzbücher das bis dahin in 
Geltung gewesene römische Recht nicht einmal, wie das noch das bayrische 
Landrecht von 1756 getan hatte, als subsidiäres Recht fortgelten lassen, sondern 
ausdrücklich aufheben; damit ist der Faden, der das überlieferte Recht mit dem 
neuen Recht der Gesetzbücher hätte äußerlich verknüpfen können, zerschnitten; 
das neue Recht gibt sich nicht als eine Zutat zu dem älteren Recht, sondern 
will das ältere Recht ganz ersetzen; die neuen Gesetzbücher stellen also einen 
formellen Bruch mit dem älteren Recht dar. Der code civil und das öster— 
reichische Gesetzbuch heben außerdem auch das ältere Recht nichtrömischen Ur— 
sprungs auf, indem sie alle örtlichen und provinziellen Gesetze und Gewohn- 
heiten beseitigen; dagegen ist das preußische Landrecht in dieser Beziehung 
minder radikal, indem es die örtlichen und provinziellen Sonderrechte wenigstens 
vorläufig fortbestehn läßt. Aber auch inhaltlich zeigt sich der Einfluß der 
naturrechtlichen Anschauung auf die Gesetzbücher. Allerdings knüpfen alle drei 
in der Mehrzahl ihrer Bestimmungen inhaltlich an das ältere Recht an, indem 
sie dessen Regeln nur neu formulieren; von einem völligen Neubau des Rechts 
auf naturrechtlicher Grundlage, wie die radikalen Theoretiker ihn ersonnen, ist 
also in der Praxis keine Rede. Aber die Anknüpfung an das überlieferte 
Recht geschieht doch überall mit dem Vorbehalt freiester Kritik: jedes einzelne 
ältere Institut, jede einzelne ältere Regel wird nach Maßgabe naturrechtlicher 
Anschauungen auf ihre innere Berechtigung hin geprüft und, wenn die Prüfung 
ein ungünstiges Ergebnis hat, schonungslos verworfen. 
2. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts lenkt die Gesetz- 
gebung unter dem Einfluß der historischen Schule in neue Bahnen ein. Sie 
schont — mit fast alleiniger Ausnahme der Agrargesetzgebung — ängstlich 
das bestehende Recht, verhält sich deshalb meist ganz untätig, und wenn sie 
eingreift, sucht sie den Zusammenhang mit der Uberlieferung zu wahren. 
3. In der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Gesetzgebung allmählich 
auf den Boden der vermittelnden Lehre übergetreten. Insbesondre gehören 
alle größeren Gesetzbücher, die seitdem ergangen sind, vor allen das erste deutsche 
Handelsgesetzbuch (1861) und das sächsische bürgerliche Gesetzbuch (1863) dieser 
vermittelnden Richtung an. 
Beispiele. I. Der „naturrechtliche“ Radikalismus des preußischen Landrechts und des code 
eivil tritt am schärfsten in seinem Ehescheidungsrecht hervor, das mit überraschender Kühn- 
heit die Uberlieferung fast eines Jahrtausends verwirft und namentlich bei Ubereinstimmung
	        
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