344 Buch J. Abschnitt 6. Eigenmächtige Rechtsausübung.
findet, sich in diesem Besitz eigenmächtig behauptet: denn nicht die Behauptung,
sondern umgekehrt die Bekämpfung bestehenden Besitzes ist ein „Angriff“.
b) Die Notwehr ist nur gegen einen „gegenwärtigen“ Angriff statthaft,
d. h. gegen einen Angriff, der unmittelbar bevorsteht oder gar bereits be-
gonnen hat. Es genügt also weder ein Angriff, der erst in der Zukunft
droht, noch ein Angriff, der bereits vollendet ist.
c) Die Notwehr ist nur gegen einen objektiv „rechtswidrigen“ Angriff
erlaubt. Dagegen braucht der Angriff nicht außerdem auch eine subjektive
Rechtswidrigkeit auf seiten des Angreifenden zu enthalten. Deshalb ist Not-
wehr auch gegen den gestattet, der in entschuldbarem Irrtum annahm, zu
seinem Angriff wohl befugt zu sein. Folgerecht wird man also sogar gegen
Angriffe einer unzurechnungsfähigen Person oder eines Tiers die Notwehr ge-
statten müssen;? doch nimmt die herrschende Meinung das Gegenteil an.=
d) Die Notwehr ist statthaft nur zur „Abwehr" des Angriffs, darf also
nicht etwa in einen Gegenangriff übergehn. Dafür ist sie aber auch, soweit
sie zur Abwehr des Angriffs erforderlich, unbeschränkt statthaft. Es schadet
also nichts, daß das Übel, das durch die Notwehr angerichtet wird, weit
schlimmer ist als das Übel, das der Angriff anzurichten drohte; ebenso ist es
unschädlich, daß der Angegriffene in der Lage war, rechtzeitig obrigkeitliche
Hülfe anzurufen und dadurch die Notwehr ganz zu vermeiden, oder daß er sich
dem Angriff durch die Flucht entziehn konnte.
e) Die Notwehr steht nicht bloß dem Angegriffenen selbst, sondern auch
jedem Dritten zu, mag dieser im Auftrage des Angegriffenen oder aus eignem
Antriebe einschreiten.
1) Die Notwehr steht dem Angegriffenen oder dem Dritten auch dann
zu, wenn er den Angriff schuldhaft veranlaßt hat.
Beispiele. I. A.# Mietkontrakt bei B. läuft am 1. Oktober ab; trotzdem weigert sich
A. ohne jeden Grund, die Wohnung zu räumen. Hier darf B. nicht etwa den A. durch
Notwehr gewaltsam aus der Wohnung weisen; denn so rechtswidrig A.## Verhalten ist, einen
„Angriff“ gegen B. enthält es nicht. II. Die C. hat sich eine Pistole gekausft, um ihren
untreuen früheren Bräutigam D. zu erschießen und übt sich täglich im Pistolenschießen. Hier
darf D. weder der E. durch Notwehr die Pistole gewaltsam fortnehmen noch sie gewaltsam
in ihren Ubungen hindern. III. 1. E. hat am 1. Mai 06 ein Privattestament errichtet, in
dem er den F. zum Alleinerben berief, und dies Testament sofort dem F. zur Aufbewahrung
geschickt; noch am nämlichen Tage läßt er sich aber bestimmen, ein neues Testament zu er-
richten, in dem er den G. als Alleinerben einsetzt, ohne dabei das ältere Testament zu er-
wähnen, und sendet dies Testament an G.; am nächsten Tage will er dem F. mitteilen, daß
seine Erbeseinsetzung erloschen sei, wird aber durch einen plötzlichen Tod daran verhindert;
nun erscheinen sowohl F. wie G. im Sterbehause und suchen sich gegenseitig gewaltsam zu
verhindern, die Nachlaßsachen an sich zu nehmen, da ein jeder sein Testament für das jüngere
bält. Hier liegt auf seiten des F. ein rechtswidriger Angriff, auf seiten des G. liegt Not-
wehr vor, obschon beide gleichmäßig aggressiv vorgehn und sich desselben guten Glaubens
erfreun; denn was G. tut, ist objektiv rechtmäßig, was F. tut, ist objektiv rechtswidrig.
2) Siehe Frank, Strafgesetzb. 5. Aufl. (08) S. 117; Otker, bei B. u. B. 1 S. 259.
3) v. Liszt, Deliktsobligationen S. 87; Endemann 1 § 854.